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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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wie sie irgendwann einmal aussehen muss. Zählt all die gekrümmten Dimensionen auf, die wir brauchen werden, um in den vieren zu überleben, in denen wir uns jetzt schon nicht zurechtfinden.
    Wenn etwas zu Bruch geht, bekommt der Fluss eine Richtung. Stimmbruch. Vertrauensbruch. Unterbrochene Schaltkreise. Zerbrochene Familien. Ob sie nun existiert oder nicht: Die Zeit hat Überstunden eingelegt.
    Er entwickelt ein privates System; wie in Trance, verloren im Nirgendwann, jongliert er mit Variablen in einem derart komplexen, weit gestreuten System, dass er gar nicht erst versucht, es mir zu erläutern. »Augustinus sagt, ihm war klar, was Zeit ist, solange er nicht darüber nachdachte. Aber im Augenblick, in dem er mit dem Nachdenken begann, war es mit der Klarheit vorbei.«
    Er sieht mich an, die Verwirrung steht ihm im Gesicht geschrieben: Diese fröhliche Trauermiene, die Tunnel der Augenhöhlen, die sich mit jedem Augenblick, den er durchschaut hat, tiefer eingegraben haben. Er steht auf der anderen Seite eines Abgrunds, zwischen uns sein unauflösbares Paradox. Mit den vier knochigen Fingern der rechten Hand fährt er sich über die Stirn, genauso unbewusst, wie er es an jedem Tag seines Lebens bestimmt hundertmal getan hat. Seine Augen leuchten bei dem Gedanken an die unlösbaren Rätsel eines jeden Tages. Wenn die Zeit tatsächlich noch existiert, dann als Resonanz dieser stationären
    Wellengleichung. Die Leben, die er noch leben muss, sind schon in ihm, ebenso real wie die, die er bisher gelebt hat.                             
    »Eine Krümmung im Konfigurationsraum«, sagt er. Ich kann nicht sagen, ob er sie entdeckt oder verloren hat oder ob er sich darauf fortbewegt. »Die Zeit muss man sich wie eine Vielzahl von Akkorden vorstellen. Kein Nacheinander von Akkorden. Ein gewaltiges polytonales Knäuel, in dem sich die gesamte horizontale Melodie zusammenballt.«
    Es ist kaum Zeit vergangen – nicht der Rede wert. Ich sehe hinunter auf das Profil dieses Mannes, den gewölbten Schild seiner Stirn, die Nase wie ein Schiffsbug, das massige Kinn, das mir so vertraut ist wie mein eigenes. Er hat kaum noch Haare auf dem Kopf, die Haut um die Augen ist bleich und schlaff. Aber eine Überzeugung hält sich hartnäckig in den Falten seiner Lider: Die Tempora sind eine Täuschung. Das ganze unselige Trio ist nicht mathematisch belegbar. Die Gegenwart ist eine falsche Spur, Vergangenheit und Zukunft sind beide in ihr enthalten. Nichts als drei verschiedene Schnitte durch die gleiche Landkarte. War und Wird-sein: Feste, bestimmbare Koordinaten auf der Ebene des beweglichen Ist .
    Ich gehe auf die dreißig zu. Ich weiß nicht, wo meine Schwester ist. Mein Bruder hat mich verlassen. Jede größere Stadt Amerikas hat in Flammen gestanden. Das neue Haus ist ein vorstädtischer Albtraum von der Stange, in dem keiner von uns je gewohnt hat. Pa sitzt in seinem Arbeitszimmer und beugt sich tief über immer neue Zeichnungen. Er arbeitet fieberhaft an der einen Aufgabe, die er für mich lösen muss. Aber wie immer kann er die Fragen, die ihm wirklich wichtig sind, nicht beantworten. Er sagt: »Es gibt keine Rassen. Rasse gibt es nur dann, wenn man die Zeit einfriert, wenn man für den eigenen Stamm einen Nullpunkt definiert. Wer die Vergangenheit zum Ursprung erklärt, lässt der Zukunft keinen Spielraum. Rasse ist eine abhängige Variable. Ein Weg, ein veränderlicher Prozess. Wir alle bewegen uns auf einer ge-krümmten Kurve, die zusammenbrechen und uns alle neu erschaffen wird.«
    Wir zwei können unmöglich verwandt sein. Niemand, der mich oder meine Familie kennt, könnte so etwas sagen. Und all die, die es ihm sagen könnten, sind nicht mehr da. Mama ist tot. Jonah ausgewandert, Ruth lebt im Untergrund. An mir bleibt es hängen, ganz allein an mir. Ich muss meinen Vater an all das erinnern, was er vergessen hat, seit er in meinem Alter war, an all die klaren, offensichtlichen Dinge, die er im Laufe der mathematischen Zeit aus den Augen verloren hat. Seine zerbrochene Familie. Woran sie zerbrochen ist. Die Frau, die er geheiratet hat. Warum er sie geheiratet hat. Ihr gemeinsames Experiment. Die große Wahrscheinlichkeit, dass er sein eigenes Experiment nicht überleben würde.
    Aber ich begreife einfach nicht, was er mir sagen will. Ich beuge mich hinab und drücke die Stirn an seine Schulter. Ich lege ihm die Hand auf die Brust und will ihn hindern, dass er ganz an jenen Ort ohne Wiederkehr

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