Der Klang der Zeit
kann deuten, was dieser Mann uns sagt? Er lebt in einer eigenen Welt. Wir wissen nur eins: Wer dieses Gesetz bricht, wer gegen den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik verstößt, der kann nicht leben. Genau wie man von Fremden keine Süßigkeiten annehmen darf. Oder immer erst rechts und links schauen muss, bevor man die Straße überquert. Wie die Warnung aus Kriegszeiten, dass ein unbedachtes Wort Schiffe versenken kann – ein Gesetz, das ich erst wirklich verstehen werde, als meine Schiffe alle längst ausgelaufen sind.
Aber der unerschütterliche Glaube unseres Vaters wankt. All seine Wissenschaft verbirgt eine tiefe Verunsicherung, die ihn Tag und Nacht quält, wie Gottes Buchhalter, der nicht schlafen kann, solange die Konten nicht ausgeglichen sind. »Im Herzen dieses wunderbaren Systems ein Fehler. Eine Schande ist das. Hilf mir, Jüngele!« Aber ich kann nichts für ihn tun. Die Unstimmigkeit macht ihn mit jedem Tag ein bisschen verrückter. Die Schande ist sein eigener Zeitpfeil und zeigt ihm, in welche Richtung er sich bewegt.
Eines Abends, als ich über Weihnachten zu Hause bin, sehe ich, wie er wieder damit ringt. Hier hockt er in seiner Höhle und brütet über einem Stück Papier mit einem Gitternetz aus blauen Quadraten. Mit Bildern übersät, wie ein Comic. »Woran arbeitest du?«
»Woran ich arbeite?« Er braucht immer einen Augenblick, bis er aus der Versenkung auftaucht. »Ich arbeite an gar nichts. Dieser Mist hier arbeitet an mir!« Er flucht gern, wenn Mama außer Hörweite ist. »Weißt du was ein Paradox ist? Das hier ist das größte Scheißparadox der ganzen Menschheit.« Ich fühle mich schuldig, verantwortlich. »Die Mechanik, deren Gültigkeit absolut ist, sagt, die Zeit kann sich in beide Richtungen bewegen. Aber die Thermodynamik, deren Gültigkeit noch viel absoluter ist ...« Er schnalzt mit der Zunge und fuchtelt mit der Hand wie ein Verkehrspolizist. »Einstein will die Uhr töten. Die Quantentheorie kommt nicht ohne sie aus. Wie können beide Theorien wahr sein? Im Augenblick – und wer weiß schon, was das ist! – verstehen sie nicht einmal das Gleiche unter Zeit. Das sieht schlecht aus, mein Joseph. Kannst du dir vorstellen. Streit in der Öffentlichkeit. Die schmutzige Wäsche der Physik. Keiner redet drüber, alle wissen es!«
Er lässt den Kopf hängen, beugt sich beschämt über sein blaues Millimeterpapier. Spielt den Clown für mich und leidet doch. Die Welt ist voller Fallstricke. Die Russen haben die Bombe. Wir sind im Krieg mit China. Juden werden als Verräter hingerichtet. Universitäten verweigern ihm die Teilnahme an Kongressen. Seine Ehe stempelt ihn in zwei Dritteln der Vereinigten Staaten zum Verbrecher. Aber das hier ist für meinen Vater die wahre Krise, die Krise des Zeitgeists: dieser Fehler, dieser Fleck auf der weißen Weste der Wissenschaft, der gesamten Schöpfung, für die die Wissenschaft die Buchhaltung macht. Dieser Fehler stellt für ihn die Zeit auf den Kopf.
Unsere Familie steht ebenfalls Kopf. Jonahs Stimme ist eine Oktave tiefer. Sie liegt gebrochen am Boden eines Brunnenschachts. Und meine steht schwankend am Rande desselben Abgrunds. Wir sind wieder zu Hause; es müssen unsere zweiten Sommerferien sein. Pa ist in tiefer, doch leutseliger Finsternis versunken. Meine kleine Schwester sitzt in seinem Arbeitszimmer und teilt seine rastlosen Qualen, sein Millimeterpapier, seine Zeicheninstrumente, streicht sich mit der Hand über das Kinn und runzelt die Stirn, als sei sie tief in Gedanken versunken. Mama macht sich über ihn lustig, und das tut mir weh, weil Pa so sichtlich leidet. Irgendwo in seiner Beweiskette steckt ein schrecklicher Fehler.
»Wieso glaubst du noch daran, wenn es dich so quält?«
»Es ist Mathematik«, schnaubt er. »Hier geht es um Zahlen, nicht um Glauben.«
»Dann ändere die Zahlen. Zwinge sie, auf dich zu hören.«
Pa holt tief Atem. »Genau das tun sie eben nicht.«
Ich leide Höllenqualen. Meine Eltern streiten nicht einmal. Es ist viel schlimmer. Um zu streiten, müssten sie sich verstehen. Aber unser Pa versteht die Welt nicht mehr. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass es Zeit überhaupt nicht gibt.
»Zeit wofür?«, will ich wissen.
Er schüttelt den Kopf, verzweifelt. »Überhaupt. Für alles.«
»Na so was.« Mama lacht, und Pa windet sich bei dem Laut. »Wo mag sie bloß hingekommen sein, die Zeit? Vor einer Minute war sie doch noch da.«
Pa sagt, die Zeit existiert nicht. Und Bewegung gibt es
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