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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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auf. Der Ton stimmte nicht. Sie musste mit anhören, wie sie die Tonhöhe, die sie in jeder Probe gehalten hatte, nicht traf. Trotzdem sang sie mit allem, was sie in sich hatte, bei diesem großen Auftritt ihres Lebens. Ihr Gesang war mächtiger als die Macht, mit der die anderen sie beschämen wollten, und die Richter zogen die Schultern ein. Dieses Lied, genau dies.
    Dies eine Mal klang die Verdi-Arie wie die Anklage, die sie war, der Fluch, der unter der überschäumenden Hymne an die Lebenslust verborgen lag. Als Delia zu Ende gesungen hatte, antworteten die Richter mit Schweigen. Sie folgten stur ihrer Routine und gaben ihr als Aufgabe für das Singen vom Blatt eine Arie aus Händels Acis and Galatea, »As When the Dove Laments Her Love«, »Wie's Täubchen klagt«. Delia sang es perfekt, hoffte noch immer auf eine Wendung des Schicksals, und lächelte bis zur letzten Note.
    Endlich sprach Dekan Grosbeck. »Danke, Miss Daley. Möchten Sie noch etwas singen?«
    Aber sie hatte sich verausgabt, keine Zugabe mehr parat. Sie überlegte, ob sie »I've Been 'Buked« singen sollte, »Ich bin verstoßen, bin ver-achtet«, aber den Triumph würde sie ihnen nicht gönnen. Als sie den Raum verließ, nach wie vor alle Plätze für Sopranschülerinnen besetzt, sah sie, wie einer der Prüferinnen, einer schmalen weißen Frau etwa so alt wie ihre Mutter, die Tränen kamen, vor Rührung und vor Scham.
    Sie stolperte durch die Straßen der Stadt, zurück nach Hause. Ihr Vater saß im Arbeitszimmer in seinem roten Maroquinledersessel und las.
    »Sie haben mich abgelehnt, bevor ich überhaupt den Mund aufgemacht hatte.«
    Über das Gesicht ihres Vaters lief jede hilflose Empörung seines Volkes wie ein Trupp Wanderarbeiter über ein Feld: Die abgewehrten Petitio-nen, die abgewiesenen Anklagen, die demütigenden Revisionsverfahren – ein Jahr später, zwei Jahre später, die Urteile widerrufen mit immer demselben Refrain. Er erhob sich aus seinem Sessel und kam auf sie zu. Er fasste sie an den Schultern und blickte ihr fest ins Gesicht, die letzte Lektion der Kindheit, zu hartem Stahl geschmiedet in dem Feuerofen, in dem sie nun beide gemeinsam standen.
    »Du bist Sängerin. Du wirst deine Stimme ausbilden. Du sorgst dafür, dass du so verdammt gut wirst, dass sie nicht anders können – dass sie dir zuhören müssen.«
    Delia hatte den Qualen des Nachmittags getrotzt. Jetzt, unter dem fürsorglichen Blick des Vaters, brach der Widerstand zusammen. »Wie denn, Daddy? Wo?« Und die Flammen des härtenden Feuers züngelten um sie.
    Er suchte so lange, bis er eine Musikschule fand, die bereit war, sie anzuhören. Keine hervorragende, aber eine anständige. Er kam mit ihr zum Vorsingen und stand mit geballten Fäusten dabei, als sie sang, als sie bestand, ein Stipendium bekam. Den Rest des Schulgelds steuerte er bei, obwohl sie auch ihre Arbeitsstelle behielt, für die zusätzlichen Gesangstunden, deren Notwendigkeit er nicht einsah. Er kam zu jedem ihrer Konzerte und war stets auf den Beinen und applaudierte, bevor der letzte Ton verklungen war. Aber Vater und Tochter wussten, auch wenn sie es sich nie gegenseitig eingestanden, dass sie nun niemals die Ausbildung bekommen würde, die ihr Talent zur vollen Größe entwickelt hätte, von den Sphären, von denen sie träumte, ganz zu schweigen.

A   TEMPO
     
    Der schlaue Hänsel ist im Stimmbruch, seine Stimme ist gefallen und wird sich nie wieder emporschwingen. »Dinge gehen zu Bruch«, sagt Pa. »Das ist der Zeitpfeil. Da kannst du sehen, wie die Melodie verläuft. Etwas zerbricht, und aus dem Gestern wird das Morgen. Vorher Sopran, dann Tenor. Grundlegendes physikalisches Prinzip!«
    Das ist das Credo unseres Vaters. Selbst wenn sich alles verändert, bleibt die Zeit immer gleich. »Wachsende Unordnung: Das ist das Maß der Zeit. Nicht nur, dass eine Mahlzeit nie umsonst ist, sie wird auch jeden Tag ein bisschen teurer. Das einzig verlässliche Gesetz im Kosmos. Alles andere gilt irgendwann nicht mehr. Doch wer nicht an den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik glaubt, der ist verloren. Der Name ist nicht treffend. Er steht nicht an zweiter Stelle. Er ist nicht einfach ein Satz über die Natur. Er ist die Natur.«
    In diesem Glauben werden wir erzogen. »Dinge fallen herunter und zerbrechen. Die Unordnung nimmt zu. Daran sieht man, in welcher Richtung wir in der Zeit unterwegs sind. Es ist keine Frage von Materie oder Raum. Es ist das Prinzip, das Zeit und Raum Gestalt gibt.« Wer

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