Der Klang der Zeit
geht, an dem er schon halb zu Hause ist.
Er liegt auf seinem letzten Bett, dem letzten vor der langen Ruhe. In einem Krankenhaus in Manhattan, nur zehn Minuten per Taxi von dem Arbeitszimmer, wo er nie wieder arbeiten wird. Er redet von der Vielzahl von Parallelwelten. »Das Universum ist ein Orchester, das sich bei jedem Tonintervall in zwei vollständige Ensembles aufspaltet, und jedes spielt fortan ein eigenes Stück. So viele vollständige Universen, wie es Noten hier in diesem gibt!«
Ich brauche einen Beweis, dass er ganz bei sich ist, in seiner lächelnden, verbrauchten Hülle. Einen Beweis, dass er nicht unsere ganze Zukunft – oder schlimmer noch: unsere Vergangenheit – verspielt hat für etwas so Unbedeutendes wie Arithmetik.
»Ha!«, schnaubt Pa, schubst meinen Kopf von seiner Schulter, und ich ziehe erschrocken die Hand zurück. Er hat etwas gefunden, eine Unstim-migkeit, die er bisher übersehen hat, das Geheimnis, das alle Asymme-trien aufhebt. Oder doch nur einen unerträglichen Schmerz im Leib.
Ich warte bis zu einem Tag, an dem es ihm nicht ganz so schlecht geht, und frage: »Hast du jemals entschieden, wer gewinnt?«
Er weiß, was ich meine: Mechanik oder Thermodynamik. Relativitätstheorie oder Quantentheorie. Das Ganz-Große oder das Ganz-Kleine. Der Fluss oder der Ozean. Strömung oder Stillstand. Das Problem, an dem er sein Lebtag gearbeitet hat. Das Problem, das ihn selbst in diesen letzten Stunden noch beschäftigt. Er versucht zu lächeln, aber er braucht alle Kraft für die eine Silbe: »Wann?«
»Am Ende.«
»Ach! Mein Joseph!« Sein ausgemergelter gelber Arm will mir einen aufmunternden Klaps in den Nacken versetzen. »Wenn es keinen An-fang gibt, wie kann es dann ein Ende geben?« Ich verliere noch den Verstand. Schon das Zusammenspiel seiner Schultermuskeln ist so unfass–bar, dass es sich mit keiner noch so komplexen Gleichung beschreiben lässt.
Ich werde ihm nie näher sein als jetzt. Er sieht mich direkt an, weiß genau, was ich von ihm will, doch er gibt mir keine Antwort. Er ist auf alles vorbereitet. Freut sich sogar über die Verwirrung, die er gestiftet hat. Alle Einsätze stehen. Die Ergebnisse werden bekannt gegeben. Irgendwo ist unsere Zukunft längst real, auch wenn wir noch nicht ahnen können, wie real; dazu stecken wir viel zu tief in der trügerischen Gegenwart. Er zuckt nochmals mit den Schultern, fuchtelt mit der Hand wie ein Dirigent. Seine Augen lachen über die Welt. Sein Blick fragt: Wie möchtest du denn, dass es ausgeht? Was machst du, wenn es anders kommt?
»Ein totes Rennen«, sagt er. »Kopf an Kopf. Nur das Zielfoto kennt den Sieger.«
Wir durchleben ein Knäuel von Augenblicken, so statisch wie das Foto. Es geht ihm nicht besser. Ärzte huschen vorbei, forschen beklommen nach Daten, versuchen den Ausgang mit allen Tricks zu beeinflussen, aber das Rennen ist längst gelaufen. Pa wird mich verlassen, und ich werde für immer im Dunkeln tappen. Zumindest da bin ich mir sicher. Die Welt wird mich auf jede nur erdenkliche Weise in Unwissenheit halten.
»Weißt du, was Zeit ist?« Seine Stimme ist so leise, dass ich glaube, ich hätte es mir nur eingebildet. »Zeit ist das Mittel, mit dem wir verhindern, dass alles zugleich passiert.«
Ich antworte, wie er es mich vor langer Zeit gelehrt hat, im Jahr meines Stimmbruchs: »Weißt du, was Zeit ist? Zeit heißt einfach nur, dass eine bescheuerte Sache nach der anderen passiert.«
AUG UST 1955
Das Ende eines langen Sommers. Der Junge ist vierzehn, ein freundliches Kind mit offenem, runden Gesicht. Niemand auf der ganzen Welt strahlt mehr Selbstvertrauen aus. Er marschiert in einem Eisenbahnwagen Richtung Süden mit schwungvollen Schritten den Gang entlang, als sei das jedermanns gutes Recht. Er blickt aus dem Fenster und sieht, wie sich die Welt von der Fensterscheibe abrollt und in Gegenrichtung verschwindet. Er ist in einer großen Stadt im Norden aufgewachsen. Er hält sich für frei.
In der Tasche seiner adretten Hose steckt ein Foto vom letzten Weihnachtsfest: Ein frisch gebackener Teenager an der Seite seiner stolzen Mutter. Auf dem Bild trägt er die Haare kurz, wie alle Jungen in seinem Alter. Das nagelneue Festtagshemd, blütenweiß und konzertfein, hat noch die Kniffe aus dem Laden. Unter den gestärkten Pfeilspitzen des Hemdkragens schaut eine neue Krawatte hervor, mit einem goldenen Streifen in der Mitte. Sein Gesicht strahlt, ein Dreiviertelmond, bei dem der
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