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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Erdschatten nur den äußersten rechten Rand verdunkelt. Er blickt voller Selbstvertrauen in die Welt, als sei er dazu ausersehen, bei einer feierlichen Hochzeit dem Brautpaar die Eheringe voranzutragen. Das ganze Leben liegt vor ihm. Seine kindliche Schönheit macht ihn glücklich; vielleicht ist es auch umgekehrt, und das Glück macht ihn schön.
    Die Mutter auf dem Schwarzweißfoto trägt Blau. Ihr Kleid hat einen weißen Spitzenkragen und weite Rüschenärmel. Die Kette um ihren Hals blitzt festtäglich. Die lockigen Haare sind hoch gesteckt. Sie legt ihrem Sohn die rechte Hand um die Schultern. Der Junge blickt direkt in die Kamera, aber die Frau lächelt in die Ferne, über den Rand des Fotos, an ihrem Jungen vorbei, die weichen, rot geschminkten Lippen ein wenig geöffnet. Ihre Augen funkeln, denn sie denkt an die Weihnachtsüberraschung, die sie für später am Nachmittag geplant hat.
    Das ist das Foto, das der Junge in der Geldbörse bei sich trägt, als er in dem Zug nach Süden mit großen Schritten den Gang entlanggeht. Ein zweites Exemplar steht zu Hause in der Stadt bei seiner Mutter auf dem Büffet, in einem silbernen Bilderrahmen, ihr Andenken an das wunderbare Weihnachtsfest vor acht Monaten. Sie hat den Jungen zu Verwandten nach Mississippi geschickt, ein paar Tage Ferien auf dem Land, bevor die Schule wieder anfängt.
    Noch ehe der Junge sein Ziel erreicht, hat er den Zug im Sturm erobert. Wildfremde Mitreisende wünschen ihm alles Gute, als er in einem winzigen Deltastädtchen namens Money aussteigt. Schon auf dem Bahnsteig umringt ihn eine Horde von Jungs, und sie schließen sofort Freundschaft. Er kommt ihnen vor wie ein Wesen von einem anderen Stern. Die Kleidung, das Auftreten, seine Art zu sprechen: So wie er sich in ihrer Mitte bewegt, voller Selbstvertrauen und immer zu einem Scherz oder einer Aufschneiderei bereit, hat er nichts auf der Welt mit seinen Blutsverwandten gemein. Außer dem Blut.
    Seine Mutter hat ihm eingeschärft, er soll sich anständig benehmen, in der Fremde. Aber jetzt, in der Fremde, weiß er nicht mehr, was das heißt. Diese Provinzstadt ist träge und unkrautüberwuchert und leicht in Erstaunen zu versetzen. Wo immer er auftaucht, auf diesen von der Hitze aufgeweichten Teerstraßen, scharen sich die Jungen um ihn; sie lechzen nach Sensationen, auch wenn sie es bis zu seiner Ankunft nicht wussten. Sie nennen ihn »Bobo«. Sie wollen, dass er eine Vorstellung gibt. Bobo soll für sie singen, populäre Gassenhauer, entfernte, städtische Verwandte ihrer eigenen Musik, die sie kaum wieder erkennen.
    Sie wollen Geschichten aus der Stadt hören, je abwegiger desto besser. Da wo ich wohne, sagt Bobo, ist alles anders. Wir können tun und lassen was wir wollen. In meiner Schule? Da gehen Schwarze und Weiße in eine Klasse, im gleichen Klassenzimmer. Reden miteinander, sind Freunde. Ehrlich, ohne Quatsch.
    Die Vettern aus dem Süden lachen ihn aus, den Spinner.
    Da. Seht doch selbst, Bobo zeigt ihnen ein Foto von seinen Schulfreunden; er hat es in der Geldbörse, zusammen mit dem Weihnachtsfoto. Den Jungs aus dem Delta bleibt das Lachen im Halse stecken. Sie sind starr vor Staunen. Sie können nicht wissen, dass der Oberste Gerichtshof in diesem Frühjahr entschieden hat, dass dieser Irrsinn – umgehend und mit dem gebotenen Nachdruck – überall eingeführt werden soll. Sie haben nicht gehört, dass die Männer, die in Jackson, der Hauptstadt des Staates Mississippi, das Sagen haben, sich in diesem Sommer stolz erhobenen Hauptes zu Gesetzesbrechern erklärt haben. Für die Jungs auf der staubigen, unkrautüberwucherten Straße in Money ist all das weiter weg als der Mond.
    Schaut mal hier, sagt der Junge namens Bobo. Er zeigt mit dem Daumennagel auf ein Mädchen. Zerbrechlich, blond, anämisch – auf ihre kränkliche Weise fast schon schön. Für die Jungen, die sich um das Foto drängen, ist es das Gesicht eines fremden Lebewesens. Mit so etwas kann man doch nicht reden, genauso wenig wie man durchs Feuer gehen kann. Seht ihr die?, fragt Bobo seine ländliche Jüngerschar. Das ist meine Freundin.
    Der Bursche ist völlig übergeschnappt. Obwohl er ihr Weltbild schon an so mancher Stelle ins Wanken gebracht hat, schenkt ihm seine Publikum keinen Glauben. Bobo und diese Strohpuppe: Das verstößt gegen alles, was heilig ist. Es verstößt gegen die Gesetze der Schwerkraft. Welche Stadt – selbst da oben im Norden – würde zulassen, dass dieser schwarze Junge einem

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