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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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offenbar auch nicht. Nur mehr oder weniger Wahrscheinliches, Dinge in bestimmten Konfigurationen, Tausende, Abermillionen von Dimensionen, statisch und unwandelbar. Wir sind es, die ihnen eine bestimmte Ordnung geben.
    »Wir spüren einen Fluss. Aber in Wirklichkeit gibt es nur den Ozean.« Und mein Vater ist am Grunde dieses Ozeans. »Es gibt kein Werden. Es gibt nur das Sein.«
    Mama winkt ab und geht ins Wohnzimmer putzen. »Nimm's mir nicht übel. Ich kann den Dreck nicht länger warten lassen. Lass es mich wissen, wenn du das Universum wieder in Gang gebracht hast.« Sie kichert am Ende des Flurs, und ihr Lachen geht unter im Dröhnen des Staubsaugers.
    Ich bin allein mit Pa in seinem Arbeitszimmer, aber ich kann ihn nicht trösten. Er zeigt mir die unwiderlegbaren Berechnungen. Alles bis ins Kleinste aufgezeichnet, wie die Taschenpartitur einer ganzen Symphonie. Was er sagt, scheint eher für eine unsichtbare Prüfungskommission bestimmt als für den einen unglückseligen Studenten in seinem Hörsaal. »In der Mechanik kann der Film rückwärts laufen. In der Thermodynamik nicht. Man würde es sofort merken, wenn man gegen den Strom der Zeit schwämme. Aber bei Newton wäre das nicht so. Und bei Einstein auch nicht!«
    »Dann lass sie einfach nicht ins Wasser«, schlage ich vor.
    Er zeigt auf eine winzige Gleichung in dem polyphonen Chaos seiner Aufzeichnungen. »Das ist die zeitlose Wellenfunktion von Schrödin–ger.«
    Er meint nicht zeitlos. Wer weiß, was er meint?
    »Das ist alles was wir haben. Die einzige Verbindung zwischen dem Universum und den subatomaren Teilchen. Das Einzige was den machschen Prämissen genügt. Die Funktion, die das außerordentlich Große mit dem außerordentlich Kleinen verbindet.«
    Anscheinend ist es wichtig, dass die Sache sich bewegt. Aber die Wellenfunktion des Universums steht still. Die Partitur bleibt für immer in der Schwebe, ein stationärer Zustand, es gibt keine Bewegung vom ersten bis zum letzten Takt, außer in einer imaginären Aufführung. Das Stück ist überall bereits vorhanden. Das abendliche Musizieren in unserer Familie hat ihn zu dieser Erkenntnis gebracht. Musik, so sagt sein Idol Leibniz, ist eine okkulte Rechenaufgabe, bei der die Seele sich nicht bewusst ist, dass sie zählt.
    »Wir sind es, die Abläufe erschaffen. Wir erinnern uns an die Vergangenheit und sagen die Zukunft voraus. Wir haben das Gefühl, dass die Dinge sich in eine bestimmte Richtung entwickeln. Wir erfinden eine Ordnung des Vorher und Nachher. Anderwärts ...«
    »Andererseits, Pa.« Ich kann es nicht lassen. Immer muss ich sein Englisch verbessern.
    »Andererseits wissen die Zahlen nicht ...« Er hält inne, verblüfft. Doch dann setzt er neu an, kehrt zurück zu den Seiten voller Formeln und Symbole. »Die Gesetze der Planetenbahnen sagen nichts darüber, ob sie sich im Uhrzeigersinn bewegen oder dagegen. Die Jahreszeiten könnten genauso gut Sommer, Frühling, Winter und Herbst sein, und wir würden es nicht merken. Ob der Schläger den Ball nach vorn schleudert oder der Ball den Schläger nach hinten, läuft aufs Gleiche hinaus. Das verstehen wir unter einem berechenbaren System. Einer determinis-tischen Welt. Die Zeit verschwindet, eine überflüssige Variable. Auch bei Einstein. Eine einzige Gruppe von umkehrbaren Gleichungen macht für uns den Ozean zum Fluss. Setzt man für einen beliebigen Augenblick einen Wert ein, so kennt man die Koordinaten aller anderen Augen-blicke, davor und danach. Wir sagen, dass die Gegenwart die Zukunft bestimmt. Aber ist das nicht ein komischer Gedanke?«
    Ich lache.
    »In mathematischer Hinsicht, meine ich. Genauso gut könnte man sagen, dass die Gegenwart die Vergangenheit bestimmt hat. Es ist ein und derselbe Weg, gleich, in welche Richtung man ihn geht.« Die Finger seiner rechten Hand beschreiben einen Kreis auf der linken Handfläche. Dann tauschen die Hände die Rollen. »Und das heißt nicht, dass das Schicksal vorherbestimmt ist. Auch der Gedanke ist viel zu tief in der Vorstellung vom Fluss der Zeit verankert.«
    Er beschäftigt sich auch noch mit anderen, weniger widerspenstigen Dingen. Er löst tausend ungelöste Probleme, für wichtige Abhandlungen, auf denen sein Name nirgendwo auftaucht, allenfalls in der Danksagung. Er sorgt dafür, dass seine Kollegen auch dann noch Ergebnisse veröffentlichen, wenn sein eigener Quell längst versiegt ist. Die Kollegen kommen aus dem Staunen nicht heraus, sie stehen so tief in seiner Schuld,

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