Der Klang der Zeit
solchen Mädchen so nahe käme, dass er mehr als nur ein Wort der Entschuldigung murmeln könnte?
Du Lügner. Du willst uns verarschen. Für wie blöd hältst du uns eigentlich?
Bobo lacht einfach nur. Wenn ich's euch doch sage, das ist meine Freundin. Über so was macht man doch keine Witze.
Die Zuhörer können ihn nicht einmal verspotten. Wozu sollen sie sich diesen Blödsinn überhaupt anhören? Das Foto, das Mädchen, das Wort Freundin – das sind doch Hirngespinste; er will sie einfach nur herausfordern. Nicht mal im Norden ist so etwas möglich. Der Junge hat ein brennendes Streichholz in der Hand und eine Stange Dynamit im Mund. Er will sie allesamt in Schwierigkeiten bringen. Die anderen weichen vor dem Foto zurück wie vor Rauschgift, Pornographie oder Diebesgut. Und aus dem gleichen Grund kommen sie auch wieder näher und sehen es sich noch einmal ganz genau an.
Sie stehen auf der Straße vor dem staubigen Backsteinbau von Bryants Lebensmittel- und Fleischmarkt, insgesamt zwanzig Jungs zwischen zwölf und sechzehn Jahren. Es ist ein schwüler Sonntag Ende August, heißer als alles, was ein Mensch ersinnen kann, und trockener als ein staubbedecktes totes Muli. Der Junge und sein Vetter sind in die Stadt gekommen, weil sie eine Kleinigkeit essen wollen, in einer Pause zwischen den endlosen Gottesdiensten, bei denen der Großonkel des Jungen predigt. Die Menge, die er angelockt hat, will mehr sehen. Das Foto des weißen Mädchens macht die Runde. Auch wenn sie insgeheim fürchten, es könne doch etwas Wahres dran sein, sind sie sicher, dass der Stadtjunge nur angibt.
Du Spinner, du kannst uns viel erzählen.
Tja. Der Junge lacht. Ihr seid ja nur neidisch. Sieht sie nicht gut aus auf diesem Bild? Und in Wirklichkeit ist sie noch viel hübscher.
Komm, mach uns nichts vor. Mal ehrlich. Wieso schleppst du ein Foto von einem weißen Mädchen mit dir herum ?
Und der Junge mit dem runden Engelsgesicht – der Junge, der das ganze Leben noch vor sich hat – grinst voller Selbstvertrauen.
Das treibt die anderen schier zum Wahnsinn. Du denkst wohl, du bist was Besonderes, weil du mit weißen Frauen redest? Warum gehst du nicht hier in den Laden und sprichst die Bryant an, die Kaufmannsfrau. Frag sie doch mal, ob sie heute Abend schon was vorhat.
Der Junge aus dem Norden setzt sein unwiderstehliches Lächeln auf. Genau das hatte er ohnehin vor. Er nickt diesen Bauerntrampeln zu, öffnet die Ladentür und verschwindet unter der Coca Cola-Reklame auf dem hölzernen Vordach.
Der Junge ist vierzehn. Es ist das Jahr 1955. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss, ein argloses Kind bei einer Mutprobe. Er kauft für zwei Cent Kaugummi von der weißen Frau. Beim Hinausgehen ruft er ihr etwas zu, zwei Worte – »Bye, Baby.«. Möglicherweise pfeift er auch: eine hastig gestohlene Trophäe, die er seinen Freunden draußen vorweisen kann, weil sie ihn dazu herausgefordert haben, weil er ihnen beweisen will, dass er sein eigener Herr ist. Er stürmt zur Tür hinaus, doch statt ausge-lassener Heiterkeit erwartet ihn blankes Entsetzen. Die anderen starren ihn bloß an und wünschen inständig, dass er das Geschehene unge-schehen macht. Die Menge läuft wortlos in alle Himmelsrichtungen aus-einander.
Vier Tage später kommen sie und holen den Jungen, nach Mitternacht, wenn die Zeit das Innerste nach außen kehrt und die Kräfte des Tages wie ein Traum sind. Sie dringen ein in das Haus des Predigers Mose Wright, Emmets Großonkel. Sie sind zu zweit, brutal, rücksichtslos. Einer ist kahlköpfig und raucht Zigaretten. Der andere hat ein verkniffenes, hageres Gesicht, das nur zwei Dinge kennt: Wut und Essen. Sie wecken den alten Prediger und seine Frau. Sie wollen den Jungen, den Niggerjungen aus Chicago, das Großmaul. Die Männer haben Gewehre. Der Junge ist ihnen sicher. Nichts auf der Welt kann sie aufhalten. Sie benehmen sich wie Gesetzeshüter und verstoßen doch gegen jedes Gesetz. Die eiskalte Zielstrebigkeit der Zeit nach Mitternacht.
Die Großtante des Jungen fleht um Gnade. Er ist doch noch ein Kind. Und nicht von hier. Was weiß der schon, der Junge? Er will doch niemandem etwas Böses.
Der Glatzkopf versetzt ihr mit dem Gewehrkolben einen Schlag an die Schläfe. Die beiden Weißen überwältigen den alten Mann. Sie packen den Jungen. So macht man das hier. Der Junge gehört ihnen.
Bobo – Emmett – bleibt als Einziger ruhig. Er kommt aus Chicago, der großen Stadt im Norden. Er hat sich nichts zuschulden
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