Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
Augenblicke, bis es erkennt, dass sein Fang ein menschliches Wesen ist. Durch die brutalen Schläge ist jeder Zoll bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Selbst Mose Wright kann seinen Großneffen erst identifizieren, als er den Siegelring von Emmets verstorbenem Vater entdeckt, den der Sohn immer an seinem schlanken Finger trägt.
    Der Sheriff will den Toten so rasch wie möglich unter die Erde bringen. Aber Emmets Mutter widersetzt sich der Polizei und besteht darauf, dass die Leiche ihres Sohnes nach Chicago überführt wird. Wider Erwarten überwindet sie alle Hindernisse und setzt ihren Willen durch. Die Leiche kehrt mit dem Zug zurück nach Norden. Obwohl die Behörden angeordnet haben, dass der Sarg nicht mehr geöffnet werden darf, muss Emmets Mutter noch einen letzten Blick auf ihren Sohn werfen, gleich auf dem Bahnhof von Chicago. Entgegen der Order schaut sie in den Sarg und bricht ohnmächtig zusammen. Als sie wieder zu sich kommt, ist sie fest entschlossen, dass die Welt sehen soll, was sie ihrem Jungen angetan hat.
    Die Welt würde lieber den Blick abwenden, aber das gelingt ihr nicht. In der Illustrierten Jet erscheint ein Foto, und das wird überall in der schwarzen Presse nachgedruckt – und nicht nur da. Auf dem Bild trägt der Junge wieder sein weißes Weihnachtshemd, frisch gestärkt, die schwarze Jacke darüber. Diese Kleidungsstücke sind das einzige Anzeichen dafür, dass das Foto ein menschliches Wesen zeigt. Dass der Beerdigungsunternehmer, der den Leichnam ankleiden musste, das überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Das Gesicht ist eine geschmolzene Gummimaske, ein Stück verrottetes Gemüse, aufgeschwemmt und entstellt. Die untere Hälfte eine einzige konturlose Masse. Das Ohr ist abgesengt. Wo einmal Nase und Augen waren, kann man nur noch vermuten.
     
    Das ist das Foto, dessentwegen unsere Eltern sich schließlich streiten, die beiden, die sich sonst niemals stritten, so viel Anlass es auch geben mochte. Für ein Kind, das im häuslichen Frieden groß geworden ist, ist jedes böse Wort schieres Entsetzen. Ein Junge so alt wie wir ist tot. Der Gedanke verwirrt mich, mehr nicht. Aber unsere Eltern streiten sich deswegen. Und das mit anzuhören ist wie ein Sturz in den Abgrund.
    »Tut mir Leid«, flüstert die eine Stimme. »Kein Kind in diesem Alter sollte so etwas sehen dürfen.«
    »Dürfen?«, antwortete die andere. »Dürfen? Wir müssen sie zwingen, es anzusehen.«
    Die Worte gehen hin und her, leise wie das Zischen zweier Sensen. Das sind nicht meine Eltern, die beiden, die das Wort Hass nicht einmal über die Zunge bringen, wenn es in einem Liedtext vorkommt.
    Auch Jonah hört ihn, den messerscharfen Ton dieses Wortwechsels. Zwar wird er noch anderthalb Jahre lang der brave Sohn bleiben, aber die Krise stürzt ihn in Verzweiflung. Er bringt die flüsternden Stimmen zum Verstummen, mit dem einzigen Mittel, das ihm einfällt. Meine Eltern streiten über das Foto, also geht er zu der Zeitschrift und sieht es sich an.
    Und so verstummt der Streit, sinkt wie ein ins Wasser geworfener Stein. Jetzt sind wir wieder eine Familie, betrachten gemeinsam das Bild, jedenfalls wir vier Großen. Ruth, da sind meine Eltern sich einig, ist zu klein dafür. Wir sind allesamt zu klein, um so etwas zu sehen, sogar mein Vater. Aber wir sehen es uns trotzdem an, gemeinsam. Das will ja die Mutter des Jungen – des Jungen auf dem Foto – damit bezwecken.
    »Ist das echt?«, frage ich. »Ist das wirklich passiert?« Mir wäre es lieber, sie stritten sich wieder, mir wäre alles lieber als das. »Das ist ein Mensch?« Ich sehe nur eine makabre Gummimaske, zwei Monate zu früh für Halloween. Meine Mutter antwortet nicht. Sie starrt wie in Trance auf das Foto, hält Zwiesprache mit dem Unsichtbaren, stellt dieselbe Frage. Aber sie fragt nicht nach dem Jungen auf dem Bild.
    Meine Mutter weint. Mir fällt nichts ein, aber ich muss etwas sagen. Damit sie nicht fortgeht. »Ist das ein Verwandter von dir?«, frage ich. Möglich wäre es. Wir haben eine Menge Verwandte auf der mütterlichen Seite, die wir überhaupt nicht kennen, auch wenn Pa und Ma immer sagen, dass wir sie eines Tages sicher noch kennen lernen. Mama antwortet nicht. Ich versuche es von neuem. »Sind das Freunde –«
    Sie winkt ab, stumm, gebrochen, bevor ich zu ihr durchdringen kann.
    Ich frage meinen Vater. »Kennen wir diesen Jungen, oder was ist damit?«
    Aber auch er hat nur ein abwesendes »Ach, sei still, Junge« für mich.
    Nachts erscheint

Weitere Kostenlose Bücher