Der Klang der Zeit
mit Einschüchterung brechen. Aber dieses schwere Stück zu stemmen, das war schlimmer als alles, was sie ihm bisher angetan haben.
Bryant und Milam zwingen ihn, sich auf die Ladefläche zu legen, nackt, neben das Stück Metall. Sie fahren ihn wieder in den Wald, ans Ufer des Tallahatchie. Auf diesen letzten zwei Meilen zieht die gesamte Geschichte der Menschheit vor dem inneren Auge des Jungen vorüber. Seine Gedanken stürzen in sich zusammen; er bringt kein Wort mehr heraus, mit dem er den Lebenden verzeihen könnte. Das Gesetz hat sich gegen ihn verschworen. Vierzehn, zum Nichts verdammt. Selbst Gott gibt ihn auf.
Eine mondlose Nacht, der Himmel voller Sterne. Sie parken den Wagen weit ab von der Straße, in einem Gebüsch am Ufer. Selbst jetzt – erzählen die Weißen der Zeitschrift, die ihnen ihre Beichte abkauft – selbst jetzt wollen sie ihm ja nur geben, was er verdient hat. Sie drohen ihm, sie werden ihm die Spindel mit Stacheldraht um den Hals binden. Bryant redet eindringlich auf ihn ein. Verstehst du, Junge? Verstehst du, dass du uns dazu zwingst, das zu tun ?
Till sagt kein Wort. Er ist an einem Ort, wo ihn solche Appelle nicht mehr erreichen.
Milam zeigt auf die schwarze Wasserfläche. Da werfen wir dich rein, Junge, wenn du uns nicht sagst, dass du gelernt hast, wie man eine weiße Frau behandelt.
Der Junge zeigte keinerlei Anzeichen von Reue, werden sie der Illustrierten später sagen. Er weigerte sich, seinen Fehler zuzugeben.
Milam wühlt in den blutbesudelten Kleidungsstücken, während sein Halbbruder die Predigt hält. Er will sehen, was so ein schwarzer Junge für Unterhosen trägt. Er durchsucht Tills Taschen. Er reißt die Geldbörse auf und findet das Foto.
Roy. Milams Stimme ist wie Metall. Sieh dir das an.
Das Foto wandert von Hand zu Hand, im Schein der Taschenlampe. Ein harmloser Gegenstand. Er rüttelt an den Grundfesten des Universums. Bryant geht mit dem Foto zum Ufer und hält es dem Jungen vor das zerschundene Gesicht. Wo hast du das her, Junge?
Von dem Jungen ist nicht mehr viel übrig, deshalb bekommt er keine Antwort. Dem Schweigen folgt eine neue Runde der Brutalität.
Wem hast du das gestohlen ? Du solltest uns lieber gleich alles sagen. Sofort.
Sie könnten ebenso gut eine Antwort vom Erdboden verlangen, in den sie ihn hineinprügeln. Die Zeit zerfließt wie der Straßenteer im August. Die Fragen schwellen an, und jedes Wort birgt in seinem Kern eine brutale Ewigkeit. Sie schlagen ihn mit einem Schraubenschlüssel. Jeder Schlag ist endlos.
Wer ist dieses Mädchen ? Was hast du mit ihr gemacht, du Scheißnigger ?
Emmet kehrt zurück von einem Ort, von wo er besser nicht entkommen wäre. Das Haus ist niedergebrannt, und es würde ihm jetzt auch nicht viel nützen, selbst wenn sie ihn am Leben ließen. Das Leben, das sie in ihrer Gewalt haben, bedeutet ihm nichts. Alle Vernunft ist zum Stillstand gekommen. Aber irgendwie kommt er zurück, findet das zerschmetterte Gehirn, den eingedrückten Kehlkopf.
Das ist meine Freundin.
Sein Verbrechen ist schlimmer als Vergewaltigung, schlimmer als Mord. Ein Schlag ins Gesicht der gesamten Schöpfung. Die Weißen tun, was sie tun müssen – sie handeln ohne Zorn, ohne Hysterie, ohne Hintergedanken. Das Töten ist ein tief sitzender Reflex, noch elementarer als Notwehr. Sie jagen dem Vierzehnjährigen eine Kugel durch den Kopf, wie einem tollwütigen Tier. Ein verzweifelter Schutzmechanismus zur Sicherung ihrer Art.
Mit einem Stück Stacheldraht binden sie der Leiche die Spindel um den Hals. Dann werfen sie den toten Körper in den Fluss, wo er nie wieder jemanden bedrohen kann. Sie kehren zurück in den Schoß ihrer Fami-lien, deren Sicherheit sie in dieser Nacht verteidigt haben.
Als der Junge nicht nach Hause kommt, wendet Mose Wright sich an die Behörden, doch die denken nicht daran, etwas zu tun. Aber er ruft auch die Mutter des Jungen an, und die alarmiert die Chicagoer Polizei. Auf den Druck von außen hin setzen sich die örtlichen Gesetzeshüter in Bewegung. Die Polizei von Money verhaftet die beiden Männer, die aussagen, sie hätten den Jungen mitgenommen und ihm ordentlich Angst eingejagt, aber danach hätten sie ihn wieder laufen lassen.
Am dritten Tag taucht die versenkte Leiche wieder auf. Sie verfängt sich im Angelhaken eines weißen Jungen, der zunächst glaubt, er habe ein urzeitliches Wasserungeheuer gefangen. Nachdem es den toten Körper an Land gezogen hat, braucht das angelnde Kind einige
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