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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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nur gut geschlagen haben, fassen uns an den Händen und gehen hinaus in den donnernden Applaus, zwei Brüder, deren gemeinsame Vergangenheit an diesem Tag zu Ende geht.

MEIN   BRUDER   ALS   ÄNEAS
     
    Mit vierzehn hatte sein Lachen, zumindest für meine Ohren, noch nicht die bitteren Untertöne. Ich hätte geschworen, dass er damals glücklich war, in Boston im ummauerten Garten unserer Musikschule. Glücklich oder zumindest geschäftig, beschäftigt mit dem Beweis, dass er Menschen jeder Hautfarbe verzaubern konnte. Und am wichtigsten war nun, dass er János Reményi verführte. Das Lob des Ungarn bedeutete Jonah in diesen High School-Jahren mehr als selbst das Lob seiner Eltern. Und Reményi nahm die Herausforderung an. Als Jonah den Stimmbruch erst einmal hinter sich hatte, war es János' ehrgeizigstes Ziel, aus dem jungfräulichen Sopran einen mannhaften Tenor zu machen.
    Die meisten jungen Männer verbringen ganze Monate im Stimmbruch, in denen ihre Stimme die unberechenbarsten Sprünge in alle erdenklichen Richtungen macht, hin- und herzischt wie ein Feuerwehrschlauch, wenn niemand stark genug ist, ihn zu halten. Jonah trat ein in dieses Purgatorium der Stimme. Hormone begannen zu fließen und hatten seine Stimmbänder schwellen lassen, und er kämpfte, dass er in der neuen Tonlage die alte Beherrschung wieder fand. Binnen erstaunlich kurzer Zeit blitzte im Schmelztiegel der Pubertät zwischen all der Schlacke das Erz der Jugend wieder auf, und gemeinsam läuterten sie es zu einem großen Klumpen aus purem Gold.
    Seine eigene Karriere hatte Reményi längst an den Nagel gehängt und trat nur noch dann und wann bei nostalgischen Veranstaltungen auf. In den Dreißigern war er regelmäßiger Gast in Bayreuth gewesen, hatte an drei aufeinander folgenden Abenden den Wotan ohne einen einzigen Patzer gesungen. Als Oberkommandeur von Walhalla, als brutaler Herr-scher über die gebeutelten Zwerge, feierte er seine Erfolge. Aber nach der Sudetenkrise fuhr er nicht mehr nach Deutschland. Später gab er nur ausweichende Antworten, wenn man ihn danach fragte, und die Musik-presse sah ein persönliches Opfer darin, obwohl 1938 die Zivilcourage schon sehr spät gekommen wäre.
    Den Krieg hindurch blieb Reményi in Budapest und sang in unverfänglichen Werken wie Ferenc Erkels Bánk Bán oder Dohnányis Turm des Wojwoden. Als die Konzertsäle des Landes im Bombenhagel untergingen, wandte er sich der Lehre zu. Nach dem Krieg versuchte er an seine Opernkarriere anzuknüpfen und reiste durch das zerstörte Italien, doch sein Temperament – zu behäbig für Belcanto, zu düster für Buffo – brachte ihm in der Presse von Neapel und Mailand nur Spott
    ein. Er blieb noch lange genug im alten Europa, um zu sehen, wie alliierte Infanteristen aller Rassen in erbeuteten Walkürenhelmen und Brundhildengewändern durch Bayreuth zogen, selbst einen in seinem eigenen Wotankostüm sah er. In aller Eile organisierte er seine Evakuierung, ließ sich von der Flutwelle, die Ende der vierziger Jahre nach Amerika schwappte, mitspülen und gründete die Boylston-Akademie, finanziert von reichen Amerikanern, deren kulturelle Minderwertigkeitskomplexe er geschickt für sich nutzte. Wenn er bei Festreden zu Spenden für die Schule aufrief, brachte er Tausende von Dollars zusammen, einfach nur mit der Andeutung, dass die USA auf der weltweiten Kulturolympiade in der Disziplin Sangeskunst nicht einmal eine Bronzemedaille errängen.
    In Boylston war Reményi in seinem Element, wieder ganz Wotan. Die Schüler waren ganz auf ihn fixiert: János hat mich zum Vorsingen für den Kammerchor bestellt. János hat mir ein Kompliment für meine C-Dur-Tonleiter gemacht. Von Angesicht nannten wir ihn alle »Sir«, keiner hätte sich ge-traut, ihn anders anzusprechen. Aber in der Geborgenheit der Mensa waren wir mit ihm per du.
    Er gab seine Stunden in einem feudalen Arbeitszimmer in den Tiefen des zweiten Stockwerks. Der Fußboden war mit Seidenteppichen aus Täbris ausgelegt und an den Wänden hingen anatolische Kelims, sodass kein Schüler auf Unterstützung durch die Resonanz des Raumes hoffen konnte. Während des Unterrichts saß er im Ohrensessel an einem Biedermeiersekretär. War etwas musikalisch zu illustrieren, so ging er an einen der beiden Bechstein-Flügel, die sich in der Ecke des Raumes aneinander schmiegten.
    Wenn ich an der Reihe war, raschelte er mit Papieren und unterzeichnete Formulare. Manchmal kam ich ans Ende einer Etüde, und er

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