Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
jemand unsere Zimmertür. Es war ein gut vorbereiteter nächtlicher Überfall – anders hätten die Künstler es nicht machen können. Ihr Werk war ein groteskes Porträt, wulstige Lippen, Kraushaar, ein Bastard aus der Kilroy-Familie, für den man zähneknirschend Alimente zahlte. Die Künstler mussten wohl Angst vor ihrem eigenen Voodoozauber bekommen haben, denn die Bildunterschrift bestand nur aus einem N, einem I und einem zittrigen G. Ausgeführt war das Werk in rotem Nagellack.
    Thad entdeckte das Porträt bei der Rückkehr vom Frühstück. »Heiliges Murmeltier!«
    Earl entfuhr nur ein ehrfurchtsvolles »Wow!«
    Jonah und ich sahen es beide im selben Augenblick. Jonah reagierte schneller. Er lachte hysterisch. »Was meint ihr, Jungs? Realistisch? Impressionistisch? Oder doch eher kubistisch?«
    Er und Thad trieben Nagellack auf und malten eine Baskenmütze und eine Sonnenbrille dazu und eine selbst gedrehte Zigarette, die ihm an der üppigen Lippe klebte. Sie nannten ihren Beatnik Nigel. Nichts hätten unsere beiden Zimmergenossen aufregender finden können: Ein wenig Nigger steckte auch in ihnen, und die Randale kam ihnen gerade recht.
    Erwachsene kamen mit steinernen Mienen, hoben die Tür aus den Angeln und setzten eine jungfräuliche ein. Jonah tat enttäuscht. »Nigel verlässt uns. Nigel zieht hinaus in die Welt.«
    »Nigel hat genug von dieser Klitsche«, fügte Thad hinzu. »Da draußen, da macht er richtige Musik.« Draußen in der Musikszene, von der er und Earl träumten.
    Noch lange später wachte ich nachts manchmal auf und hörte ein Scharren an der Tür.
    In gewissem Sinne schien János sogar stolz darauf, dass sein junger Star nicht weiß war. Es war eine Dissonanz, die es umso aufregender machte, der Welt etwas so Seltenes, so Unerhörtes zu präsentieren. Wie die meisten Vorkämpfer der westlichen Kultur tat Reményi gern, als gebe es etwas wie Rassenunterschiede gar nicht – von Riesen, Zwergen und Walküren einmal abgesehen. Er konnte die Vertracktheit eines Par-sifal leichter begreifen als die Demütigungen, die unsere Mutter in Kauf nehmen musste, damit sie überhaupt europäische Musik singen durfte. János Reményi hatte keine Ahnung davon, wie es in seiner Wahlheimat wirklich aussah, genauso wenig wie die übrigen weißen Fakultätsmit-glieder. Für ihn gehörte die Musik – seine Musik – allen Rassen, allen Zeiten, allen Orten. Sie sprach jeden Menschen an und tröstete jede Seele. Das war der Mann, der bis 1938 den Wotan gesungen und nichts von der kommenden Götterdämmerung geahnt hatte.
    Alles drehte sich um die eine, alles beherrschende Idee: Ein Einzelner bildete seine Stimme nur dadurch, dass er sich dem Weltgeist öffnete. In den Ruinen dieses vom Bombenhagel zerstörten Glaubens schulte Reményi meinen Bruder. Aber im Herbst 1955 machte sich ein neuer Zug im Wesen meines Bruders bemerkbar, etwas, das sein Lehrer im Keim erstickt hätte, hätte er es gesehen.
    Mit Jonahs Stimmbruch begann auch die Wand zwischen ihm und Kimberly Monera zu bröckeln. Als er erst einmal zum Tenor transponiert war, lag die Antwort auf das ratlose Was nun ?, das die beiden vor ihrer Pubertät getrennt hatte, auf der Hand. Auch Kimberly hatte dieser eine Sommer so verändert, dass sie kaum wieder zu erkennen war. Als sie zurückkehrte, strahlte sie. Sie hatte die Ferien in Spoleto verbracht, wo ihr Vater im Sommer residierte. Und irgendwie hatte sie dort singen gelernt. Aus dem linkischen Albino war im zweiten Akt ein Schwan geworden.
    Ihre Formen hatten sich dermaßen verändert, dass sie selbst erschrocken gewesen sein muss. Noch im Frühjahr war sie schmal und unterentwickelt gewesen, doch nun hatte die neu gefundene Kraft den Körper sichtlich gerundet. Im Kurs zur Musikgeschichte saß ich hinter ihr und fragte mich, warum ihre Mutter ihr keine größeren Kleider kaufte. Unter diesem zu eng gewordenen Kokon machte ihre neue Haut sich bereit für die Welt. Durch die straff gespannten hellgrünen oder taubenblauen Blusen starrte ich das schmale Band ihres Büstenhalters an, die drei kleinen Erhöhungen, wo die Häkchen saßen, Meisterwerke der Ingenieurskunst. Wenn sie die Beine in ihren Nylonstrümpfen übereinander schlug, hörte ich Finger, die über die Saiten einer Violine fuhren.
    In ihrer Gegenwart spielte Jonah den Beschützer, war ganz der einfältige Kavalier. Die einsame Eintracht unseres Dachstubenclubs existierte nicht mehr. Earl und Thad wollten ihn aushorchen. Doch Jonah,

Weitere Kostenlose Bücher