Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
Straßenschlachten ohne Ton –, Jonah singt seine Tonleitern dazu, und ich mache stumme Fingerübungen auf der Tischplatte.
    Es ist August, genau wie damals bei Till, nur zwölf Jahre später. Auch jetzt sieht wieder die ganze Nation zu und möchte gern glauben, dass das Schlimmste überstanden ist. Alles sieht anders aus, aber nichts hat sich verändert. Ein Schwarzer ist Richter am Obersten Gerichtshof. Aber mehr Schwarze sitzen im Gefängnis, sind eingekesselt in brennenden Städten, sterben in den Dschungeln Asiens. Der Fernsehschirm des Drake zeigt einen Kameraschwenk über eine Geschäftsstraße, ausgebrannte Backsteinhäuser Block um Block. Mein Bruder hält mitten im Arpeggio inne, drei Noten vor dem üblichen Hoch seiner Skala.
    »Kannst du dich noch an diesen Jungen erinnern?«
    Seit jenem Tag sind wir fast doppelt so alt geworden. Meine Albträume sind vorüber, und wir haben nie wieder über das Foto gesprochen. Und soweit ich mich erinnerte, hatte ich auch nicht mehr daran gedacht. Aber das, worüber unsere Eltern sich gestritten hatten, die vergebliche Hoffnung, dass sie uns schützen könnten, hat in uns weitergearbeitet. Ich weiß sofort, wen er meint.
    »Till«, sagt mein Bruder, im gleichen Moment, in dem ich »Emmett« sage. Mein Bruder wird still, scheint in Gedanken zu rechnen. Ich kann mir ausmalen, was er denkt. Es gab eine Zeit, da war ich genauso alt wie dieser Junge. Jetzt bin ich sechsundzwanzig, und er ist immer noch vierzehn.
    Das Dutzend Jahre seit dem Tod dieses Jungen liegt vor uns wie ein leerer Konzertsaal, zehn Minuten bevor der Vorhang aufgeht. Ich blicke zurück auf dieses Jahr, das Jahr, das ich nicht sehen konnte, als es noch Gegenwart war. Jetzt, mit zwölf Jahren Verspätung, begreife ich, worum meine Eltern sich damals gestritten haben. Ich höre meine Mutter schluchzen, wie sie weint um diesen Jungen, den sie gar nicht kannte. Auf dem stummen Hotelfernseher schwenkt die Kamera nun eine Häu-serzeile entlang; es könnte gut Lenox sein, nur ein paar Blocks von dem Haus entfernt, in dem wir groß geworden sind.
    »Sie wollte nicht, dass wir das sehen. Wir sollten es nicht wissen.«
    Mein Bruder starrt mich an. Das erste Mal seit über einer Woche, dass er mir ins Gesicht blickt. »Was sollten wir nicht sehen?«
    »Das Bild.« Ich mache eine Bewegung in Richtung Fernsehschirm, wo Polizisten mit Schlagstöcken und zähnefletschenden Schäferhunden sich einen Weg durch die brüllende Masse bahnen. »Sie wollte nicht, dass es uns wehtut, wenn wir sehen, was sie ... mit ihm gemacht haben.« Ich schnaube. »Und wehgetan hat es.« Jonah sieht mich an, als käme ich von einem anderen Stern. Ich kann nicht glauben, dass ihm dieser Gedanke niemals gekommen ist. »Vor ... allem anderen war sie immer zuerst unsere Mutter. Eine Mutter, die ihre Kinder behütet.« Mein Bruder schüttelt den Kopf, leugnet es. Ich komme ins Stocken, rede umso hektischer weiter. »Und dann dein Vater, der Wissenschaftler: ›Was soll das heißen, zu jung? Das ist eine Tatsache, das müssen sie wissen.‹«
    »Deine Erinnerung ist vollkommen verdreht.«
    Ich spüre, wie ich rot werde wie von einer Ohrfeige. Ich würde ihn anflehen, betteln. Aber zugleich ballen sich meine Fäuste. Ich habe mich geopfert als sein Begleiter, habe mein ganzes Leben dafür eingesetzt, dass die Welt draußen ihn nicht verletzt. Seit einem Vierteljahrhundert trage ich meinen Bruder auf meinen Schultern. Und ich bin ja erst fünfundzwanzig. »Meine Erinnerung? Jonah, du Haufen Kacke. Du weißt doch überhaupt nicht mehr –«
    »Versuch nicht zu fluchen, Muli. Das wird noch schlechter als dein Chopin.«
    »Aber was willst du sagen? Meinst du, sie hatte einen anderen Grund? Meinst du, sie war –«
    »Du siehst es falsch herum. Pa war das. Wir sollten ja nicht mal hören, dass es überhaupt etwas zu streiten gab. Unsere Träume sollten rein bleiben, rein wie die Musik. Er wollte sich einreden, dass der Junge ein Unfall war, ein Ausrutscher der Geschichte. Würde nie wieder vorkommen. Du und ich und Ruthie? Unsere Generation? Wir würden ganz von vorn beginnen. Und was wir nicht wussten, konnte keine Narben hinterlassen.«
    Ich schüttele den Kopf, weise das alles weit von mir. Genauso gut könnte er mir erzählen, wir seien Adoptivkinder.
    »Jetzt hör mal zu. Mama war wütend. Sie hat ihm gesagt, er hätte nicht die leiseste Ahnung, wie es in der Welt aussieht. Ich höre sie noch
    schluchzen. ›Ganz egal für was du diese beiden

Weitere Kostenlose Bücher