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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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arbeitete noch minutenlang weiter, ehe er es bemerkte. Wenn er dann auftauchte, kommandierte er »Weiter, weiter«, als hätte ich aus Trotz aufgehört zu spielen. Ihn kümmerten nur die Sänger, und auch da nur diejenigen, deren Stimme eine große Karriere versprach. Mich nahm er zur Kenntnis, weil ich wichtig für das Wohlergehen meines Bruders war. Vielleicht sah er mich auch als medizinisches Rätsel. Wie konnte das gleiche Erbgut beim einen Genie und beim anderen nur Mittelmaß her-vorbringen ? Einen Moment lang blickte er zweifelnd, dann trug er mir etwas Neues auf und kehrte zu seinen Papieren zurück.
    Jonahs Unterricht war der Einzige, für den Reményi eine Ausnahme von seinem Fünfzig-Minuten-Raster machte. Mein Bruder verschwand in Reményis Allerheiligstem und blieb stundenlang fort. Ich verging fast vor Sorge. In seiner Zimmertür gab es eine drahtverstärkte Glasscheibe, eine Vorsichtsmaßnahme an den Unterrichtsräumen seit einem Zwi-schenfall mit einem damaligen Mitglied des Lehrkörpers und einer frühreifen Fünfzehnjährigen. Wenn ich mich aus ein wenig Abstand auf die Zehenspitzen reckte, konnte ich unentdeckt einen kleinen Ausschnitt von dem sehen, was drinnen vor sich ging.
    Der Lehrer auf der anderen Seite der Glasscheibe war ein Unbekannter. János stand da, fuchtelte mit erhobenen Armen und produzierte mit den Lippen einen Schwall von Stakkato-Triolen; er dirigierte, als stünde er im Orchestergraben und hätte das gesamte Met-Orchester vor sich. Jonah machte ihn nach, die Brust vorgereckt, ein stolzer Krieger. Durch das Glas kam es mir vor wie ein Puppentheater, dessen lebensgroße Figuren das Duett von Papageno und Papagena aufführten.
    Wie ein Dompteur bändigte János die neue Stimme meines Bruders. Er zeigte dem jungen Mann, wie er sein Instrument öffnete, wie er sich seine Kraft aneignete. Alles was Jonah an Tonhöhe verlor, würde er um ein Vielfaches an Farbe und Wärme hinzugewinnen. Der Stimmbruch war wie ein Zufallsfund beim Renovieren, wo unter bröckelndem Putz der schönste Marmor zum Vorschein kommt. Die entwaffnende Unschuld seiner hohen Töne, derentwegen seine alten Zuhörer immer wieder fast vor Scham vergangen waren, wichen nun den vieldeutigeren Höhen des erwachenden Erwachsenenlebens.
    Vor ihm lagen Jahre des Schweißes und der harten Arbeit. Aber von allen seinen heranwachsenden Schülern, versicherte ihm János, habe Jonah am wenigsten zu verlernen. Der Junge sei zu ihm gekommen, sagte er gern, als noch Musik in ihm war und bevor jemand die Chance gehabt habe, das Talent zu zertrampeln. Aber die Wahrheit ist: Es gibt keine Einheit zwischen uns und der Musik. Nichts in unserer Natur braucht etwas so Überflüssiges wie Gesang. Der Gesang ist ein Gewand, das wir uns selbst anlegen müssen, uns hineinwickeln wie in das kalte, schwarze Firmament. Teils kam Jonahs Wohlklang von seinen mächtigen Lungen, seinen elastischen Stimmbändern, dem Widerhall in den Höhlen seines Kopfes. Aber im Mittelpunkt seiner Kunst stand etwas, das erlernt war. Und nur ein einziges, frevlerisches Paar gab es, das ihm so viel beigebracht haben konnte, wie er wusste.
    Jonahs Talent hätte sich unter fast jedem Lehrer entwickeln können. Als er seine Energie erst einmal nicht mehr für die Motetten unserer Familienabende brauchte, sog er wie ein Schwamm alles in sich auf, was er aus anderen an Wissen herausbekommen konnte – wobei er zugleich noch in fröhlicher Unbefangenheit das, was er anderen stahl, schlecht
    machte. Jonah nahm von allem nur das Beste – von Reményi die Erfahrung, von Kimberly Monera die Zartheit, von Thad und Earl die Ideale der Avantgarde, von mir das Gefühl für Harmonie –, bis er sich all das vollkommen zu Eigen gemacht hatte. Aber später war Jonah überzeugt, dass er seine Reise ganz allein unternommen habe, und hatte all seine Weggefährten tatsächlich vergessen.
    Die Stimme des jungen Mannes erhob sich aus der Asche der Knabenstimme. Schon nach wenigen Monaten konnte János hören, welches Wunder sich da entwickelte. Das Rohmaterial dieses Jungen – die Frucht früher Einflüsse – ließ eine Zukunft erahnen, die Reményi selbst niemals erreicht hatte. Die Frage war nur, wie weit über seine eigenen Fertigkeiten hinaus ein Lehrer etwas vermitteln konnte. Solange Jonah brav blieb, ging alles gut. Sein Unterricht bei Reményi machte gute Fortschritte, und mit einer Hand stieß der Meister meinen Bruder hinaus ins Leben, mit der anderen hielt er ihn

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