Der Klang der Zeit
unbewusst fest.
Jonah ließ dem Mann seine Begeisterung und teilte sie sogar manchmal mit ihm. Ich ging auf Zehenspitzen an dem Zimmer vorbei, erhaschte kurze Blicke auf die beiden bei ihren geheimnisvollen Übungen, die harte Arbeit eines Lehrers, den ich nur als jemanden kannte, der mit Papieren raschelte. Ich sah János, wie er sich auf die Knie fallen ließ, um das Sinken des Kehlkopfs zu demonstrieren, sah, wie er die Finger spreizte, als trage er einen Baseballhandschuh, und die Töne auffing, die Jonah schleuderte, und wie er mit den Armen eine Röhre formte, durch die Jonah seine dreißigsekündigen Pianissimi fädelte.
Ganz besonderen Wert legte der Rektor von Boylston auf die Tonge-bung. Nur Jonah hatte einen Begriff davon, was er mit dem Wort überhaupt meinte. Einmal saß ich beim Gemeinschaftskundeunterricht, fünf-zig Schritt den Gang hinunter von dem Raum, in dem Reményi mit meinem Bruder übte, und hörte ihn brüllen: »Zum Donnerwetter! Tanzen sollst du den Ton lassen, er soll auf deinem Atem schweben, wie ein Ball auf einem Wasserstrahl.« Es klang eher nach einem Fluch als nach einer Anweisung. Meine Mitschüler sahen mich mitleidig an, ließen die Köpfe hängen, als sei jeder Tadel für Jonah ein Tadel für uns alle. Dann hörten wir einen lang anhaltenden, hohen Forte-Ton, wie kein Jugendlicher ihn je hervorgebracht hatte. Und der Ungar brüllte, noch lauter: »Genau! Das ist es!«
Aber selbst in seiner Begeisterung war dieser Mann zurückhaltend. Die meiste Zeit gab er sich kühl und sachlich. Seine Lehrmethode war archaisch und revolutionär zugleich. Er ließ meinen Bruder Tonleitern von Conone singen und gleich darauf die vertracktesten Übungen Gar-cias: Triolen, Quartolen, Arpeggien. Er ließ ihn schnelle, wortreiche Passagen mit zwei Fingern zwischen den Zähnen singen. Von da an nahm Jonah nie wieder die Zunge für selbstverständlich. János ließ ihn Legato-Melismen singen wie die Sforzati eines Maschinengewehrs. Jonah musste jeden Ton haargenau treffen, sonst hatte er die ganze Folge noch einmal von vorn zu beginnen. Lehrer und Schüler arbeiteten zusammen daran, schufen diese kleinen Sensationen und verloren sich beide in der Begeisterung des Wettstreits.
Unser Wotan war der Überzeugung, dass kein Schüler die Kunst der Gesangtechnik meistern könne, wenn er nicht auch in der Kultur insgesamt gebildet sei. Zu Beginn des Winterhalbjahrs 1955 predigte er es uns in der Aula. »Das Singen ist eine höhere Form des Sprechens, in einer Sprache, die über allen menschlichen Sprachen steht. Aber wenn ihr in den Worten des Kosmos reden wollt, dann müsst ihr mit irdischen Worten üben. Wenn ihr bereit sein wollt, die Missa solemnis oder die h–Moll–Messe zu singen – diese Höhepunkte westlicher Kunst –, dann müsst ihr europäische Dichtung und Philosophie lesen, so viel ihr nur könnt.« Reményis transzendentaler Humanismus erleuchtete unseren Himmel wie eine Nova. Wir konnten nicht wissen, dass, genau wie eine Nova, der Stern, der so hell strahlte, schon tot war.
János Reményis Freimaurermanier schadete Jonah weniger als andere, unnatürlichere Methoden es vielleicht getan hätten. Auch wenn noch so viel vom Ton die Rede war, wusste Reményi doch, dass er der Stimme meines Bruders am besten dienen konnte, wenn er ihr einfach freien Lauf ließ. Der Junge war sein Golem, sein amerikanischer Adam, seine Tabula rasa aus der Philosophie der Aufklärung, ein Samenkorn, das in seinem Gewächshaus wachsen würde. Gerade erst hatte Europa sich um alles gebracht, was es besessen hatte, seine Rokoko-Opernhäuser waren verbrannt, als die Hochkultur zum vorerst letzten Mal in Flammen aufging. Aber hier, an diesem bezaubernden klösterlichen Ort fernab von allem, wo der Begabteste unter den Novizen alles übertraf, was Reményi in der Alten Welt unterrichtet hatte, konnte der selbst nicht mehr junge Bassbariton noch einmal die Erhabenheit spüren, und da kümmerte ihn die Hautfarbe seines Schülers nicht.
In jenem Jahr fand zum ersten Mal der Gesangwettbewerb der Schule statt. János bestand darauf, dass Jonah unter den Älteren antrat. Er wählte das Stück für meinen Bruder aus – Händels »Süße Stille« – und wollte auch den Klavierbegleiter auswählen. Aber Jonah weigerte sich, ohne mich aufzutreten. Als die erste Runde vorüber war, warfen auch die Gladiatoren, die mit der wildesten Entschlossenheit in den Ring ge-stiegen waren, das Handtuch.
Eine Woche darauf bemalte
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