Der Klang der Zeit
Jungen hältst, für die Welt sind sie schwarz.‹ Wir müssten bereit sein, hat sie gesagt. Wir müssten wissen, wozu die Leute fähig sind.« Jonah blickt auf den Fernsehschirm, dann zum Harper's-Artikel, den er immer griffbereit auf dem Nachttisch hat. »Pa wollte ihr weismachen, dass es so etwas nur im Süden gebe, dass es nichts weiter als ein paar räudige Hunde seien. Unser Vater war das, der gesagt hat, es würde uns nur schaden, wenn wir das Bild ansähen.«
Ich kann es nicht glauben. Die Leute, von denen er da spricht, die kenne ich nicht. Meine Mutter hätte das nicht zu meinem Vater gesagt. Mein Vater hätte nie solchen Unsinn geredet.
»Weißt du, was draus geworden ist? Wie die Sache ausgegangen ist?« Jonah sieht mich an, lächelt, macht eine wegwerfende Handbewegung. »Mit den Killern, meine ich.«
Mein Bruder, der sonst nie liest, hat hinter meinem Rücken etwas gelesen. Vielleicht hat er es auch aus dem Fernsehen, aus einer Sendung über die Bürgerrechtsbewegung spätabends auf einem öffentlichen Kanal, wo keiner Anstoß daran nimmt und alle braven Bürger, ich zum Beispiel, längst im Bett sind.
»Den Weißen. Den Mördern. Sie haben ihr Geständnis einer Illustrierten verkauft, ein paar Monate nach dem Freispruch. Gerade frisch aus dem Gerichtssaal, und schon erzählen sie dem ganzen Land, wie sie es angestellt haben, wie sie den Jungen umgebracht haben. Noch schnell ein paar Scheinchen dazuverdient, Taschengeld. Der Junge ließ ihnen keine andere Wahl, wie man hört. Natürlich können sie nach dem Freispruch kein zweites Mal angeklagt werden.« Im Licht des Hotelzimmers sieht Jonah fast wie ein Weißer aus. »Hat dir das damals zugesetzt? Das Bild?«
»Wochenlang Albträume. Weißt du das nicht mehr? Ich habe so sehr gestöhnt, dass du wach geworden bist. Du hast mich immer angebrüllt, ich soll die Schnauze halten.«
»Ehrlich?« Er zuckt mit den Schultern, vergibt mir in einer Geste, dass ich ihn geärgert habe. »Wochen nur? Mir ist er jahrelang erschienen. Vierzehn, genau das Alter. So würde es kommen. Mich würden sie auch noch holen. Ich war als nächster dran.«
Ich sehe ihn an und kann es nicht glauben. Mein furchtloser Bruder, der die ganze Welt um den Finger gewickelt hat. Mein Bruder wirft sich aufs Bett. Er spreizt die Finger an beiden Händen, als wolle er den Sturz auffangen. Schließt die Augen. Das Bett ist wie ein Trampolin. »Ein klein wenig kurzatmig, Muli. Ich glaube, ich kriege einen Anfall.«
»Jonah! Nicht heute Abend. Komm hoch.« Ich rede mit ihm wie mit einem kleinen Kind, einem ungezogenen Welpen. Ich gehe mit ihm durchs Zimmer, langsam, entspannt, massiere ihm den Rücken. »Einfach weiteratmen. Ganz ruhig.«
Ich gehe mit ihm ans Fenster. Der Lärm der Hochbahn, das träge Treiben des Geschäftsverkehrs unten entspannen ihn ein wenig. Jonah fasst sich. Er lässt die Schultern sinken. Er atmet wieder. Er versucht es mit einem Grinsen, den Kopf in den Nacken gelegt. »He, was soll das, Mann? Musst du mich denn überall betatschen?«
Er windet sich, bis ich ihn loslasse, dann dreht er meinen Arm, um einen Blick auf meine Uhr zu werfen. Er selbst trägt natürlich nie eine. Nichts, was ihn ablenken, nichts, was ihn herunterziehen könnte, lässt er an seinen Leib.
»Liebe Güte, wir kommen noch zu spät«, sagt er, als sei ich derjenige, der getrödelt hätte. »Vergiss nicht, unser großer Abend.«
Er sagt es mit einem bitteren Künstlerlächeln, schon auf dem Weg ins Badezimmer, wo sein Abendanzug in der feuchten Luft hängt. Es folgt das übliche Ritual: Heiße Tücher in den Nacken, Abreiben mit Eukalyptus und Zitronenscheiben, Stimmübungen, während er seine weiße Schleife bindet. Ich ziehe die Vorhänge vor und kleide mich im Zimmer um, zwischen den Betten. Jonah ruft unten an, fragt, wo seine Schuhe bleiben, und als der Page sie bringt, glänzen sie wie zwei Obsidianspie–gel. Er gibt ihm ein unverschämt hohes Trinkgeld, und der Mann macht sich verlegen und ärgerlich davon.
Dann kommt unser Debüt in der Orchestra Hall mit Liedern von Schumann, Hugo Wolf und Brahms. Die Kultur des weißen Mannes. Lampenfieber und zu viel Proben machen uns ein wenig beklommen. Jonah glüht an diesem Abend, das Glühen eines todgeweihten Schwind-süchtigen. Das Chicagoer Publikum – alles Leute von der North Side und aus den Vororten – spürt, dass etwas Großes geboren wird.
Später, nach dem Schubert als Zugabe, haben wir das Gefühl, dass wir uns mehr als
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