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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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in die Runde.
    Wenn Bryant und Milam schuldig sind, wendet der Verteidiger sich an die Geschworenen, was ist dann noch geblieben von unserem Land der Freiheit, der tapferen Heimstatt?
    Die zwölf weißen Geschworenen beraten sich eine Stunde und sieben Minuten lang. Sie hätten nicht so lange gebraucht, erzählt einer von ihnen einem Reporter, wenn sie nicht noch ein Pauschen gemacht und sich eine Limonade gegönnt hätten. Das Urteil wird verkündet: Unschuldig in allen Punkten der Anklage. Milam und Bryant haben kein Unrecht getan. Sie kommen frei und kehren zu Frau und Familie zurück. Das ganze Verfahren dauert gerade einmal vier Tage. Die Zeitungen bringen noch ein letztes Bild: Die Mörder und ihre Kumpane, wie sie im Gerichtssaal ihren Triumph feiern.
    Von diesem Prozessausgang hören Jonah und ich nichts. Wir sind wieder zurück in der Geborgenheit unseres Konservatoriums, gewöhnen uns an unsere neue Stimmlage, lernen die tiefen Stimmen in einer großen Chorfantasie, die davon singt, dass alle Menschen Brüder werden. Wir sind ganz versunken in unser eigenes improvisiertes Leben und tragen nun selbst Fotografien in unseren Brieftaschen mit uns herum. Wir verdrängen den Jungen, das Albtraumbild, das man nicht vergessen kann, zu entstellt, als dass es etwas anderes sein könne als eine missratene Tonfigur. Wir fragen unsere Eltern nicht, wie der Prozess ausgegangen ist, und wir sprechen nicht davon. Denn mehr noch als vor dem Verbrechen müssen sie uns vor dem Urteil schützen.
    Erst als Erwachsener erfahre ich, wie es damals ausging, in einem Alter, das Emmett Till nie erreicht hat. Ein Kind kommt um, das andere überlebt nur dadurch, dass es nicht hinsieht. Was hatten sie uns denn sonst an Schutz zu bieten, unsere Eltern, die uns schutzlos der Welt auslieferten, als sie uns zeugten? Denn in einem Land wie diesem, wo sollte da Sicherheit sein ?
    Eines allerdings, darüber komme ich nicht hinweg. Es ist zwölf Jahre später, 1967. Jonah und ich sind in einem Zimmer im elften Stock des Drake–Hotels in Chicago, ein Dutzend Jahre zu spät für das Begräbnis. Ich sitze am Fenster und versuche vergebens, jenseits der Feuerleitern einen Blick auf das zu erhaschen, was im Stadtplan »Magnificent Mile« heißt. Mein Bruder liegt auf dem Bett, vor Aufregung wie gelähmt. Für den Abend steht sein Debüt in der Orchestra Hall auf dem Programm.
    Endlich sind wir aus der Wildnis von Saskatchewan heraus, fort von den Konzertscheunen in Kansas, wo das Wasser von der Decke tropft. Jonah strahlt wie ein Meteor an dem, was vom Himmel der klassischen Musik geblieben ist. Einer der »Hand voll Sänger unter dreißig« ist er laut High Fidelity, »die uns den Liedgesang mit neuen Ohren hören lassen«. Und die Detroit Free Press nannte ihn »einen Tenor wie ein himmelstürmender Engel, der zu uns zurückkehrt mit der Botschaft von einem schönen und fremden Ort«. Er hat bei einem kleinen Label eine erfolgreiche Platte aufgenommen, eine zweite ist geplant. Es heißt, dass er einen langfristigen Vertrag mit einer der großen Firmen unterzeichnen werde, vielleicht sogar mit der Columbia. Wenn er nicht gerade anfängt zu rauchen, ist ihm die große Karriere so gut wie sicher.
    Aber der Triumph zeigt auch zum ersten Mal seine Schattenseite. Ein führender Intellektueller, von dem Jonah noch nie gehört hatte, ist gerade in einer Zeitschrift über ihn hergefallen. Es ist nur eine beiläufige Bemerkung in Harper's, kein Ort, an dem es ihm groß Schaden zufügen kann. Jonah liest mir die Stelle so oft vor, dass wir sie schließlich beide auswendig können. »Und doch gibt es bemerkenswert begabte junge Schwarze, die immer noch der Kultur des weißen Mannes nachlaufen, selbst jetzt noch, wo ihre Brüder in den Straßen sterben.« Der Intellektuelle nennt einen angesehenen Tänzer, einen Pianisten, der internatio-nal Karriere macht, und Jonah Strom. Von mir ist natürlich nicht die Rede, genauso wenig wie von tausend anderen nicht ganz so begabten, doch treuen kleinen Brüdern.
    Was er uns vorwirft, stimmt. Tatsächlich sterben Menschen in den brennenden Straßen. Newark ist ein Inferno. Detroit steht in Flammen. Vom elften Stock des Drake sieht es zwar noch nicht wie ein Bürgerkrieg aus, aber zu spüren ist es überall, und mein der Kollaboration beschuldigter Bruder ist geradezu süchtig danach. In jeder Stadt, die wir im Sturm nehmen, in jedem pastellfarbenen Hotelzimmer, sehen wir uns die ratlosen Nachrichtensendungen an –

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