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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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kleinen braunen Mischlingsjungen ein. Das darf nicht sein.«
    Ich hatte stets von der Eigenwilligkeit meines Bruders profitiert, seine Sorglosigkeit war meine Sicherheit gewesen. Die Leute in ihrer Blindheit existierten nur zu seiner persönlichen Unterhaltung. Er hatte schon immer seine festen Vorstellungen davon gehabt, wie andere ihn sahen. Jede zweideutige Bemerkung, jede verhohlene Sehnsucht, ihn zu lynchen, war von ihm abgeprallt – jede Demütigung bis auf diese. Jetzt war mein Bruder vom Fieber geschüttelt, die Impfnarbe unserer Kindheit brannte.
    »Sieh uns doch an, Joey!« Das waren die Töne einer Stimme, die schon verstummt war, bevor seine eigene überhaupt auf der Welt gewesen ist. »Was tun wir denn hier, wir zwei Schießbudenfiguren? Weißt du, was wir sein sollten?«
    Mit seinen Worten stieß er mich zwischen die Füße der Menschenmenge, die unablässig aus der Tiefe des Schachts hervorquoll. Wir waren Heimatlose. Von nun an würden wir hier auf dieser Treppe leben, es gab keine Wärme, keine Geborgenheit mehr, zu der wir zurückkehren konnten. Alles, was ich an Gewissheit gekannt hatte, löste sich auf, so schnell wie die Schneeflocken auf dem Gesicht meines Bruders.
    »Wir sollten richtige Neger sein. Wirklich schwarz.« Seine Lippen waren blau vor Kälte, Worte wie Eidotter. »Rabenschwarz. So schwarz wie die schwarzen Tasten auf dem Klavier. So schwarz wie der Bursche da drüben.« Mit dem Daumen spannte er einen imaginären Hahn und nahm mit dem Finger einen Mann ins Visier, der eben über die Straße kam. Ich fasste seine Hand. Er drehte sich zu mir um, lächelte. »Meinst du nicht auch, Joe? Das wäre so einfach, so eindeutig. Schwarz wie Äthiopien in der Nacht.« Er sah sich um, hätte am liebsten mit dem ganzen Kenmore Square einen Streit vom Zaun gebrochen. »Dann hätten wir gewusst, woran wir sind. Dann hätten unsere verlogenen weißen Freunde uns zu Tode prügeln können. János wäre nie auf den Gedanken gekommen, mich in seine bescheuerte Schule zu holen. Keiner hätte mich ausnützen wollen. Ich müsste für niemanden singen.«
    »Jonah!« Ich stöhnte, hielt mir die Ohren zu. »Was sagst du denn da? Dass ein Schwarzer nicht singen darf?«
    Er lachte wie ein Irrsinniger. »Weiß schon, was du meinst. Aber nicht ohne Tanzen. Und nicht der Dreck, den wir jetzt singen müssen.«
    »Dreck, Jonah? Dreck?« Alles, was wir geliebt hatten. Alles, womit wir groß geworden waren.
    Jonah konnte nur lachen. Er hob die Hände, das unschuldige Opfer. »Du weißt doch, was ich sagen will. Wir wären nicht ... wo wir jetzt sind.«
    Wir saßen in unserem irrealen Unterschlupf, kehrten der Masse den Rücken. Um unsere Füße sammelten sich Schneewehen. Mein Verstand raste. Wir mussten bleiben, wo wir waren. Außer klassischer Musik kannte ich nichts. »Echte Schwarze ... viel schwärzere Leute singen die Sachen, die wir singen.«
    »Sicher, Joey.«
    »Sieh dir Robeson an.«
    »Sieh du ihn dir an, Joey. Ich habe genug gesehen.«
    »Was ist mit Marian Anderson?« Die Frau, die, wenn man den Erzählungen glauben wollte, unsere Eltern zusammengebracht hatte. »Jetzt hat sie es sogar in die Met geschafft. Die Tür ist offen. Bis wir soweit sind ...«
    Jonah zuckte mit den Schultern. »Die größte Altistin des zwanzigsten Jahrhunderts. Und sie werfen ihr einen Knochen hin, eine kleine Nebenrolle fünfzehn Jahre nach ihrer besten Zeit.«
    Ich stürmte voran, auch wenn ich den Weg nicht mehr sah. »Was ist mit Dorothy Maynor? Mattiwilda Dobbs?«
    »Bist du fertig?«
    »Es gibt noch mehr. Viel mehr.«
    »Wie viele sind viel?«
    »Eine ganze Menge«, sagte ich, das Wasser nun bis zum Halse. »Camilla Williams. Jules Bledsoe. Robert McFerrin.« Ich hätte mir die Aufzählung sparen können. Er kannte die Namen ja alle; alle, die uns jemals Mut gemacht hatten.
    »Nur weiter.«
    »Jonah. Überall schaffen Schwarze den Durchbruch in der klassischen Musik. Diese Frau, die im Fernsehen gerade Tosca gesungen hat.«
    »Price.« Da musste er doch lächeln vor Vergnügen. »Was ist mit ihr?« Er schlang mir den Arm um die Schulter. »Sieh dir uns beide an. Zwei Hälften von nichts. Auf halbem Wege nach Nirgendwohin. Wir beide, Joey. Hier draußen mitten im ...« Er machte eine Handbewegung, die den ganzen lang gestreckten Platz umfasste, die Menschen, die durch den Schnee hasteten. »Wir wären besser dran gewesen. Die Leute wollen doch nichts haben, wovon sie nicht mal –«
    »Sie wollte dich.« Ich brachte es

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