Der Klang der Zeit
Schulgenossen. Ich erstarrte, als ich das Wort aus seinem Munde vernahm. »Den mache ich fertig.«
Was Reményi zu ihm gesagt hatte, verriet er mir nie, und ich habe auch nicht mehr gefragt. Ich wusste ja nicht einmal, was sie meinem Bruder zur Last legten. Aber ich wusste, dass ich ihn im Stich gelassen hatte. Unser Leben lang hatten wir uns gegenseitig vor der Welt draußen beschützt. Und jetzt war ich selbst einer von draußen.
Das Konzert von Charlestown war keine unserer Glanzleistungen, auch wenn die Zuhörerschaft, alles Schüler, unseren Ton für Jubilieren hielt. János strahlte, verneigte sich, und mit jener leichten Handbewegung, als schwinge er eine Sichel, ließ er auch den Chor seine Verbeugung machen. Irgendwie brachte Kimberly ihr Solo hinter sich. Als Jonah sich zu den Schnörkeln erhob, die wir ihn alle hundertmal hatten singen hören, schoss es mir plötzlich durch den Kopf, das Zeitlupenbild von jemandem, der einen Unfall kommen sieht: Das wird seine Rache. Er musste ja nur einfach den Mund halten. Gewaltfreier Widerstand. Das kleine Ritardando, das er gern seinem Einsatz vorausschickte, die leichte Pause, die das Publikum aufblicken ließ und bei dem selbst unser Dirigent einen Moment lang den Atem anhielt, würde einfach weitergehen, ein Bann, der das gesamte Reich der Zuhörerschaft in Schlaf versetzte.
Beim Gedanken an Jonahs Coup geriet ich in Panik; ich zählte die Taktschläge, teilte und unterteilte sie weiter. János wartete einfach, dass das schier endlose Zögern vorüber war, hielt in der Bewegung des Diri–gierens inne, war nicht einmal blass geworden. Jonah blickte ihn weder an, noch sah er absichtlich fort. Er verharrte einfach in seinem vollkommenen Schweigen, hing an dieser Kante über dem Abgrund, dem Nichts.
Dann kam der Ton. Der Schleier zerriss, und mein Bruder sang. Die vertraute Melodie holte mich vom Ende der Welt zurück. Keiner im Publikum hatte sich etwas dabei gedacht – alle waren nur umso gespannter gewesen. János war zur Stelle, griff Jonah unter die Arme, und genau am Ende seiner tonlosen Kadenz kam der Einsatz des Chors.
Als das Stück zu Ende ging – eines jener seichten Potpourris englischer Volkslieder, die für das Amerika der fünfziger Jahre der Inbegriff sentimentaler Festtagsstimmung waren –, hatte sich längst der ganze Chor von seiner Energie anstecken lassen, Jonahs trotziger Funken hatte unseren Ehrgeiz geweckt, und beim Schlussakkord tobte der ganze Saal.
János legte seinem Wunderkind den Arm um die Schultern und drückte ihn vor aller Augen an sich, der Beschützer dieses Jungen, und die Idee eines Zerwürfnisses war so abwegig wie der Gedanke, dass der Teufel seine Seele holen kam.
Jonah lächelte, verneigte sich, ließ sich die Umarmung des Meisters gefallen. Aber als er dem applaudierenden Publikum schließlich den Rücken zukehrte, suchten seine Augen die meinen. Und was er mir mit seinem Blick zu verstehen gab, war unmissverständlich: Du hast gehört, wie nahe ich schon war. Ein Kinderspiel. Irgendwann ist er dran.
Ich hielt Ausschau nach ihm in dem Menschengewimmel nach dem Konzert. Die Schüler aus Charlestown kamen ganz nahe an ihn heran, sie wollten sehen, ob er echt war, sein Haar berühren, sie wollten Freunde sein. Und Jonah beachtete sie überhaupt nicht. Er packte mich am Handgelenk. »Hast du sie gesehen?«
»Wen?«, fragte ich. Er schnalzte ärgerlich mit der Zunge, und schon war er fort. Ich lief ihm nach, durch den ganzen Saal. Immer wieder lief er nach draußen zu den wartenden Boylston-Bussen, dann stürmte er wieder in die Schule wie ein Feuerwehrmann, der entweder einen Orden erringen oder den Tod in den Flammen finden wird. Ein Mitschüler sagte uns schließlich, er habe gesehen, wie jemand Kimberly in János' Wagen fortgebracht habe.
Jonah suchte die ganze Schule nach ihr ab. Er war noch immer auf der Suche, als der Dienst habende Lehrer kam und »Licht aus« befahl. Jonah lag im Dunkeln da, verfluchte János, verfluchte Boylston, Worte, die ich weder aus seinem noch sonst einem Mund bisher gehört hatte. Er warf sich hin und her, bis wir schon überlegten, ob wir ihn mit dem Betttuch festbinden sollten.
»Das überlebt sie nicht«, sagte er immer wieder. »Sie wird vor Scham sterben.«
»Ach was«, ließ Thad sich von der anderen Seite der schwarzen Kammer vernehmen. »Sie will doch wissen, wie's weitergeht.« Die beiden Jazzer weideten sich an dem Drama. Jonahs Auftritt war die große Sensation. Hier
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