Der Klang der Zeit
Tribünen hören. Jetzt stand alles verlassen da, im Winter nichts als ein armseliger Slum.
Jonah war immer zwei Schritte voraus, die Hände in den Taschen. Jedes Wort produzierte eine gefrorene Dampfwolke. »Ich mache mir Sorgen um sie, Joey. Ihre Eltern ... Ihr Vater hat womöglich ...«
Ich hätte ihm gern gesagt, weswegen sie fort war, aber vor allem anderen war ich sein Bruder.
Bis wir wieder am Konservatorium ankamen, waren wir beide dick mit Schnee bedeckt. In den Straßen hier am Rande der Fens herrschte das dämmrige, graue, verwaschene Licht von Luftschutzbunkern. Autos fuhren auf dem glitschigen Untergrund nur noch mit halbem Tempo. Die Schule war erst zu sehen, als wir schon durch das Tor gingen.
Alles schien angespannt, merkwürdig still. Mitschüler verdrückten sich von den Gängen, als sie uns kommen sahen. Einen Moment lang waren wir tatsächlich die Unberührbaren, die mein Bruder beschrieben hatte. Ein Junge, den wir nicht kannten, verkündete uns: »Ihr kriegt Ärger. Die suchen überall nach euch.«
»Wer?«, fragte Jonah. Aber der Junge zuckte nur mit den Schultern und wies zur Bürotür. Seine Augen leuchteten bei dem Gedanken, dass Jonah Strom mit seiner Engelsstimme jetzt gleich vom Himmel stürzen würde.
Wir schüttelten unsere Schneekruste ab und begaben uns zum Büro. Ich wollte laufende schneller wir alles gestanden, desto gnädiger fiel die Strafe vielleicht aus. Aber nichts konnte Jonah dazu bewegen, anders als in seinem üblichen Tempo durch den Flur zu gehen. Als wir eintraten, schreckten selbst die Erwachsenen vor uns zurück. Irgendwie waren wir auf diesem kleinen Spaziergang weitergekommen als sie, an einen Ort, für den sie nicht bereit waren.
»Wo habt ihr gesteckt?«, fuhr der stellvertretende Direktor uns an. »Wir haben die ganze Schule auf den Kopf gestellt.«
»Wir waren ordnungsgemäß abgemeldet«, antwortete Jonah. Der Direktor war so sehr aus der Fassung, dass er es dabei bewenden ließ. »Euer Vater wartet auf euch. Er ist oben in eurem Zimmer.«
Wir sehen uns an, ein Blick, der uns festnagelt, wo wir stehen. Wir nehmen die Treppe im Laufschritt, zwei Stufen auf einmal. Mein Bruder gewinnt immer mehr an Vorsprung, Absatz um Absatz, immer noch bei Puste, als ich schon längst keuche. Er könnte stehen bleiben und fünfzehn Sekunden lang das hohe A halten, mühelos.
Oben angekommen, japse ich nach Luft. Mein Bruder stürmt schon den Flur hinunter. Ich folge und höre noch, wie er Pa fragt: »Was ist passiert? Wieso bist du hier?« Er hat eine Vermutung. Jetzt klingt auch er atemlos, aber vor Anspannung.
Der Mann, der da auf Earl Hubers Bett sitzt, ist nicht unser Vater. Der dort sitzt, ist eingesunken, zusammengefallen, eher Penner als Mathematiker und Physiker. Seine Haut ist fahl. Unter seinem Pullover, der nicht zum Hemd passt, sieht man, wie schwer er atmet. Er blickt zu mir auf, ein entsetzlicher Hilfeschrei der Stimme des Blutes. Aber dieses Gesicht habe ich zum Glück nie in meinem Leben gesehen. Hinter der Hornbrille, der mächtigen Stirn, sind alle Muskeln erschlafft. Unser Vater sieht uns mit etwas an, das er für ein Lächeln hält. Ein beschwörendes, ein flehendes Lächeln. Ein Lächeln, das sich in mir breit macht, von mir Besitz ergreift, mich vertreibt aus meiner Kindheit.
»Na, ihr zwei? Wie geht es?« Sein deutscher Akzent ist stärker denn je, als hätte er einen Kloß im Mund. Ich bin heilfroh, dass wir allein sind, keine Zimmergenossen aus Ohio, denen wir das erklären müssen.
»Pa?«, fragt Jonah. »Ist alles in Ordnung?«
»Ordnung?«, fragt unser Vater, der Empiriker. Wie soll man Ordnung messen? Ordnung ist eine Maßeinheit, die sich mit der Größe des Messenden wandelt. Er atmet ein. Er öffnet den Mund, um ein Wort zu sagen. Aber das Cluster von Konsonanten bleibt ihm im Halse stecken, sie hängen an dieser Kante wie ein Selbstmörder, der jeden Moment springen wird und der doch hofft, dass ihn jemand ins Haus zurückholt. »Es gab ein Feuer ... eine Explosion. Alles ist ... verbrannt. Sie ist ...« Ein Wort nach dem anderen probiert und verwirft er. Und dazu lächelt mein Vater noch immer, als könne er sich irgendwie doch noch mit dem abfinden, wofür er nicht einmal einen Namen hat.
»Was ist mit ihr?«, brüllt Jonah. »Wo hast du es gehört?«
Mein Vater sieht seinen Erstgeborenen an. Er hält seinen Kopfschief, genau wie der verblüffte Hund, der die Stimme seines Herrn aus dem Grammophon vernimmt. Mit ausgestreckter
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