Der Klang der Zeit
in einem irrsinnigen, kichernden Falsett. »Sie ist fort, Joey. Für immer.«
Drei Tage lang schlief er nicht, glaubte, es sei nur eine Frage von Minuten, bis er von ihr hörte. Dann war er überzeugt, dass sie ihm längst geschrieben hatte, dass die SA-Männer der Schule ihre Briefe abgefangen und vernichtet hatten. Das imaginäre Beweismaterial drehte er so lange zwischen den Fingern, bis nichts mehr davon übrig war. Mit jeder Wiederholung kamen zu seinen Erklärungen neue Ausschmückungen hinzu. Von mir wurde erwartet, dass ich mir jedes dieser Ornamente anhörte.
»János muss ihr irgendwelche Lügen über mich erzählt haben. Die Schule hat an ihren Vater geschrieben. Wer weiß, was in diesem Brief an Gemeinheiten über mich stand, Joey. Es ist eine Intrige. Die Maestri und die Schulmeister mussten sich zusammentun und sie von hier fortschaffen, bevor ich sie vergifte.« Jonah quälte sich sogar mit der Frage, ob Kimberly womöglich selbst darum gebeten hatte, dass sie fortkam. Er tauchte ganz in seine Wolke von Spekulationen ein. Ich brachte ihm jede Klatschgeschichte, die ich zu hören bekam. Doch alle meine Gaben tat er als nutzlos ab. Aber je weniger ich für ihn tun konnte, desto mehr wollte er mich um sich haben, ein stiller Zeuge für seine immer wilderen Spekulationen.
Ende Dezember trug er uns ins Ausgangsbuch ein und gab als Grund den Besuch einer Fotoausstellung im Museum of Fine Arts an. Es war ein kalter Tag. Er trug seinen grünen Cordmantel und dazu eine schwarze Pelzmütze, die ihm bis in die Augen reichte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich anhatte. Nur an die schneidende Kälte erinnere ich mich. Er ging neben mir her und sagte kein Wort. Schließlich landeten wir am Kenmore Square. Er wies mir einen Platz auf dem Rinnstein am U-Bahn-Eingang an. Die Kälte von den Treppen kroch in meine Hosen, und durch die Unterwäsche hindurch spürte ich sie auf meiner Haut.
Jonah kannte keine Kälte. Jonah glühte. »Du weißt, worum es hier geht, nicht wahr, Joey? Du weißt, warum sie dafür gesorgt haben, dass wir uns nicht mehr sehen?« Du weißt es. Und ich wusste es. »Die einzige Frage ... die einzige Frage ist: Hat sie es entschieden?«
Aber auch da wusste ich die Antwort. Sie hatte zu ihm gehört. Gemeinsam hatten sie die Partituren studiert, hatten einander geholfen, ihre Talente zu entwickeln. Nichts hatte sich geändert, nur dass man sie in der Requisitenkammer erwischt hatte. »Jonah. Sie wusste doch ... wer du bist. Vom ersten Tag an. Sie hat doch Augen im Kopf.«
»Ein Mohr, meinst du? Sie konnte sehen, dass ich ein Mohr bin?«
Ich wusste nicht, wem sein Zorn galt: mir, Kimberly oder sich selbst. »Ich meine ja nur. Es ist nicht so als ob sie ... es nicht gewusst hätte.« Das Eis unter mir brannte wie Feuer.
»Ihr Vater wusste es nicht. Solange ihr Vater glaubte, der Wunderknabe von Boylston sei ein harmloser kleiner Weißer, gönnte er ihr ihre Sandkastenliebe. Sie sollte sich amüsieren. Sempre ...«
Er klang alt. Die Erkenntnis war in der Nacht, während ich schlief, wie eine Krankheit über ihn gekommen. Ich legte ihm den Arm um die Schulter. Er merkte es gar nicht, und so zog ich ihn wieder zurück. Ich wusste nicht mehr, ob es richtig war, ihn zu berühren. Alle Gewissheiten gingen in diesem Albtraum des Erwachsenwerdens unter. »Jonah. Das weißt du doch nicht. Du kannst doch nicht einfach davon ausgehen, dass das der Grund war.«
»Natürlich war er das. Was soll es denn sonst gewesen sein?«
»Ihr Vater wollte nicht, dass sie ... dass ihr beiden ...« Ich brachte es nicht fertig zu sagen, was ihr Vater nicht gewollt hatte. Und was ich ja auch nicht gewollt hatte.
»Er hat ihr einen übermütigen Brief geschrieben. Sie soll das Leben genießen.«
»Vielleicht dachte er ... wusste er nicht, wie ...« Wie weit wollte ich sagen.
»Joey. Spiel doch nicht immer den Blödmann.«
Ich wandte den Blick ab, sah hinüber zur Straßenkreuzung, dem Stand des Zeitungsverkäufers am Geländer des U-Bahn-Schachts, dem Imbiss auf der anderen Seite der Beacon Street, das Fenster mit billigem Weihnachtsschmuck dekoriert. Es hatte angefangen zu schneien. Vielleicht schneite es auch schon länger.
»So schnell, wie sie verschwunden ist, kann es nichts anderes gewesen sein. Nur eine Sache gibt es auf der Welt, bei der die Leute so durchdrehen. János muss mit Monera telefoniert haben. Hat ihm erzählt, was hier los ist. Die hehre Tochter des großen Dirigenten lässt sich mit einem
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