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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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spielte die Musik. Oper für die neue Generation. Juke und Jive, dass die Fetzen flogen. Nigel und die Blondine. Gab es irgendwo ein besseres Programm?
    Als der Morgen kam, war Jonah nur noch ein Nervenbündel. »Sie hat sich irgendwo verkrochen und wird sich etwas antun. Und diese Gestalten merken nicht einmal, dass sie weg ist!«
    »Antun? Was denn?«
    »Joey«, stöhnte er. »Tu doch nicht noch dümmer als du bist.«
    Am nächsten Nachmittag tauchte sie wieder auf. Wir saßen in der Mensa, als sie kam. Jonah war nur noch ein Wrack, er wäre aufgesprungen und zu ihr hingelaufen, dem Ein und Alles seiner jungen Jahre. Die Augen der ganzen Schule waren auf die beiden gerichtet. Kimberly ging durch den Saal und würdigte unseren Tisch keines Blickes. Sie suchte sich einen Platz so weit ab von uns wie nur möglich.
    Mein Bruder hielt es nicht aus. Er ging zu ihr hin, egal wie die Folgen sein mochten. Sie fuhr zusammen, duckte sich, als er noch meterweit fort war. Er setzte sich, wollte mit ihr reden. Aber was immer sie sich zwei Tage zuvor bedeutet haben mochten, stand jetzt in einem anderen Libretto.
    Im Sturmschritt kam er zurück. »Lass uns hier verschwinden«, sagte er, mehr zu sich als zu mir. Er floh nach oben. Ich stolperte hinterher. »Ich bringe den Bastard um. Das schwöre ich.« Die Drohung war ein Opern-requisit, ein dünner Bühnendolch aus Blech. Aber von meinem Platz oben im zweiten Balkon sah ich das silberne Mordinstrument schon bis zum Heft in der Brust seines Mentors verschwinden.
    Mein Bruder brachte János Reményi dann doch nicht um. Und János Reményi erwähnte den Vorfall nie wieder. Das Unheil war abgewendet, der Anstand blieb gewahrt, mein Bruder hatte einen Dämpfer erhalten. Reményi ließ ihn einfach nur noch mehr Phrasierungsübungen von Concone singen.
    Jonah stellte Kimberly nach. Einmal spätnachmittags bekam er sie zu fassen. Sie saß in einem Sessel im Aufenthaltsraum für die Älteren und las E. T. A. Hoffmann. Sie wollte davonlaufen, als sie ihn sah, aber auf sein Drängen blieb sie doch. Er setzte sich neben sie und fragte mit Flüsterstimme: »Erinnerst du dich noch an unser Versprechen?«
    Sie schloss die Augen und atmete aus dem Bauch heraus, so wie János es ihnen beiden immer einschärfte. »Jonah. Wir sind doch noch Kinder.«
    Und von dem Augenblick an waren sie keine mehr.
    Er hätte seine ganze Kunst hergegeben, um das zurückzubekommen: die heimliche Verlobung der Kinderzeit, das gemeinsame Musikhören und Singen vom Blatt, die Zeit, die sie über Partituren verbracht hatten, die Pläne für ihre gemeinsame Welttournee. Aber jetzt hatte sie die Tür für ihn versperrt, und zwar wegen etwas, das die Erwachsenen ihr ge-sagt hatten. Etwas, das sie bis dahin nicht bedacht hatte. Noch einmal hörte sie ihm zu, aber nur aus Gefälligkeit. Sie ließ sogar zu, dass er ihre marmorweiße Hand fasste, auch wenn sie seinen Druck nicht erwiderte. Für die blasse, weiße, europäische Chimera war all die Süße der ersten Liebe, waren all ihre gemeinsamen Entdeckungen nun befleckt vom Erwachsensein.
    »Was willst du damit sagen?«, fragte er. »Dass wir jetzt nicht mehr zusammen sein können? Nicht mehr miteinander reden, uns nicht mehr berühren dürfen?«
    Sie wollte nicht antworten. Und er wollte nicht hören, was sie nicht sagte.
    Er quälte sie. »Wenn das, was wir tun, unrecht ist, dann ist die ganze Musik unrecht. Die Kunst. Alles was du liebst ist dann unrecht.«
    Sie würde sich von diesen Worten eher töten, als sich umstimmen lassen. Etwas in Kimberly war zerbrochen. Etwas hatte einen Misston in das Duett gebracht, das sie insgeheim in einem leeren Konzertsaal einstudiert hatten. Zwei Wochen vorher hatte sie noch geglaubt, es sei die große Premiere ihres Lebens. Jetzt sah sie das Stück zum ersten Mal von der anderen Seite, vom Zuschauerraum aus, und verriss ihren eigenen Part.
    Jonah schlich durch die Schule wie ein verhätschelter Hund, der plötzlich Prügel für das Kunststück bekam, das man ihm beigebracht hatte. Jede Bewegung war langsam und vorsichtig, als habe der Ausgang seiner ersten Generalprobe ihn für alle Zeit entmutigt. Wenn ihm das genommen werden konnte, dann gehörte ihm nichts. Am allerwenigsten die Musik.
    Als die Woche zu Ende ging, war Kimberly Monera fort. Sie hatte ihre Sachen gepackt und war verschwunden. Ihre Eltern hatten sie mitten im Schuljahr von der Schule genommen, ein paar Tage vor Beginn der Weihnachtsferien. Mein Bruder erzählte es mir

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