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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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nicht über mich, den Namen des bleichen Mädchens zu sagen. »Sie wusste, wer du bist... sie wusste, dass du kein Weißer bist.«
    »Tatsächlich? Tatsächlich? Da war sie ja ein gutes Stück weiter als ich.«
    »Quäl dich doch nicht, Jonah. Du weißt nicht, was war. Vielleicht haben sie sie aus einem ganz anderen –«
    »Sie hätte geschrieben.« Wütend über meine Vertrauensseligkeit. »Joey. Weißt du, woher das Wort Mulatte kommt?«
    Ich überlegte lange, bevor ich antwortete. »Du hältst mich für einen Dummkopf, nicht wahr? Du denkst, ich bin ein Idiot, der immer nur lieb Kind sein will.« Ich wollte mich aufrichten, aber ich konnte nicht. Meine Beine waren steif wie die einer Statue. Mein Hosenboden war an der Treppenstufe festgefroren. Als ich mich schließlich losgeschaukelt hatte und hochwollte, hielt er mich fest. Er sah mich mit großen Augen an, verblüfft darüber, wie viel ich in all den Jahren schweigend erduldet hatte.
    »Ich denke nichts dergleichen, Joseph. Ich habe nur das Gefühl, deine Eltern haben dich in einer Traumwelt groß werden lassen.«
    »Ulkig. Genau das Gleiche habe ich gerade über deine Eltern gedacht. Dann erzähle es mir. Woher kommt das Wort?« Das Wort, das ich hasste, ganz gleich, welcher Herkunft es sein mochte.
    »Es ist Spanisch und heißt soviel wie Maultier. Weißt du, warum sie uns so nennen?«
    »Kreuzung aus einem Pferd und ... was weiß ich.«
    »Stadtjunge.« Er griff nach meiner Kappe und zog sie mir über die Augen. »Sie nennen uns Maultiere, weil wir uns nicht fortpflanzen können. Und da ist was dran. Ganz egal, wen man heiratet –«
    »Du hättest sie nie geheiratet, Jonah. Es war nur ein Spiel. Von Anfang an hat keiner von euch geglaubt, dass es wahr werden könnte ... Nur ein kleines Singspiel, an dem ihr zwei euch versucht habt.« Das Ende allerdings von fremder Hand verfasst.
    Nie zuvor hatte ich ihm widersprochen. Ich blieb reglos sitzen, wartete auf den Todesstoß. Aber er hatte mich gar nicht gehört. Mit resignierter Stimme redete er weiter. »Du und ich, Muli. Wir zwei, wir sind einzigartig.« Das hatte unsere Mutter immer zu uns gesagt. Ihr Stolz, das heimliche Band, das uns all die Jahre zusammengehalten hatte. »Zwei bescheuerte Bären auf Rollschuhen, das sind wir.«
    Zu meiner Linken blieb ein Mann stehen. Ich sah zu ihm auf und erblickte einen Polizisten, der zu uns herunterstarrte. Der Name auf seiner Dienstmarke kam mir italienisch vor. Er war genauso dunkel wie wir beide. Aber um Hautfarbe geht es ja auch nicht.
    Der schwarze Italiener sah uns finster an. »Ihr haltet hier den Verkehr auf, Jungs.«
    Jonah betrachtete den Mann, ganz konzentrierte Aufmerksamkeit, als hätte er einen Takt- und keinen Schlagstock in der Hand und würde gleich eine Arie singen.
    Ich nickte benommen für uns beide.
    »Dann seht mal zu, dass ihr weiterkommt, und zwar pronto. Bevor ich euch mit aufs Revier nehme.«
    Jonah sprang auf und landete perfekt auf den Füßen. »Ich kann mich nicht bewegen«, jammerte ich. Ich war tatsächlich festgefroren. Ich musste sitzen bleiben und allmählich erfrieren, wie ein tragischer Held bei Jack London.
    »Hörst du nicht?«, schnauzte der Beamte mich an. »Bist du taub?« Dunkler als Oliv. Vielleicht ein türkischer Vorfahr irgendwo in der Ahnenreihe. Er packte mich an der Schulter und zog mich auf die Füße. Dabei verdrehte er mir so grob den Arm, dass ich, wäre ich mein eigener Enkel gewesen, ihn dafür hätte verklagen können.
    Jonah tanzte dem Polizisten etwas vor. »Ich bin ein mulatto bei canto castrato mit meinem legato smorzato.« Ich schob ihn fort, aber er zwängte sich wieder nach vorn, fuchtelte dem Polizisten mit dem Finger vor der Nase herum. »Das ist mein obbligato motto, Otto.«
    »Na dann, Gesundheit.« Der Mann verzog keine Miene und wandte sich ab. Er hatte schon größere Irre gesehen. Jede Arbeitsstunde: der Abgrund der menschlichen Krankheit an jeder Straßenecke seiner Streife. Er drohte uns vage mit dem Handrücken. »Haut bloß ab, ihr Herumtreiber.« Wir stolperten davon, meine Beine noch steif von der Winterkälte. Als wir schon hundert Meter fort waren, rief er uns noch »Frohe Weihnachten« nach. Ich wollte ihm danken für seine Milde und erwiderte den Gruß.
    Mein eines Bein fühlte sich an wie Beton. Ich rief Jonah zu, er solle langsamer machen. Wir nahmen den Yawkey Way, am Baseballstadion vorbei. Im Frühherbst konnten wir von unserem Zimmer in der Schule die Rufe von den ärmlichen

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