Der Klang der Zeit
Hand versucht er die Verwirrung zu zerteilen. Aber die Hand, zu klein für alles, sinkt wieder in den Schoß. Noch immer lächelt er. Überall und immer ist nur die Gegenwart. Er nickt dazu. »Eure Mutter ist tot.«
»Oh«, sagt mein Bruder. Und den entscheidenden Sekundenbruchteil zu spät schlägt seine Erleichterung in Entsetzen um.
APRIL – MAI 1939
Mit dem Zwei-Uhr-Zug war sie wieder zurück in Philly. Noch in derselben Nacht. Was sollte da schon groß geschehen sein bei ihrer Reise nach Washington ? Und doch schlich sie sich ins Haus wie eine Verbrecherin, ein Geheimnis auf der Seele, tiefer als der Potomac. Und nach vier Stunden, in denen sie kein Auge zugetan hatte, schleppte sie sich aus dem Bett zum Unterricht, und danach kam die Arbeit im Krankenhaus, wenn sie nicht vorher tot umfiel.
Ihre Mutter erwartete sie in der Küche, die Frage auf den Lippen, obwohl ganz Philadelphia die Antwort längst kannte. So viele Radios waren eingeschaltet gewesen zu den Übertragungen des Abends, es war ein Wunder, dass die Stadt nicht den Äther leer gefischt hatte. Jede Zuhörerin hatte in dieser Stimme ihre eigene, ganz persönliche Marian gehört, als sie von den Stufen dieses so öffentlichen Ortes sang.
»Na, wie war dein Konzert?«, fragte Nettie Ellen, als hätte Delia selbst auf der Bühne gestanden. Etwas in dieser Frau wusste es mit einer Ge–wissheit, als wäre es schon Geschichte: Wenn ihre Tochter am Abend zuvor dem Verhör entgangen war, dann würde es ihr jetzt, an diesem Montagmorgen, kein zweites Mal gelingen.
»Ach, Mama. Das größte Konzert aller Zeiten. Das ganze Land war da – zehnmal mehr als bei Jesus mit seinen Fischen und Brotlaiben. Und Miss Anderson hat sie alle gespeist, mit noch weniger als er.«
»M-hm. Es war also gut, mit anderen Worten?« Nettie Ellen hatte jede Note von diesem mitreißenden Konzert gehört, tief über das Röhrenradio im Wohnzimmer gebeugt, hatte gehört, wie klar und rein diese Stimme durch alles Knistern und Rauschen zu ihr kam. Auch sie hatte den Kloß in ihrem Hals gespürt, den bitteren, beißenden Geschmack der Hoffnung – der neuen Hoffnung, so dumm sie auch war, nach all den Toten, die den Weg zu diesem Tage säumten. Noch bevor ihre Tochter aus den Federn war, hatte sie schon die Schlagzeilen des Tages gelesen, gleich nachdem der Zeitungsjunge sie in den brennenden Dornbusch geschleudert hatte: AMERIKA BEGEISTERT VON DER SCHWARZEN STIMME. Nettie hatte keine Zeit für Amerika. Sie steckte bis zu den Handgelenken in der Teigschüssel, knetete die Mischung aus Mehl und Ei. Sie schlug mit einer Energie auf den Teig ein, die für ihre Tochter Bände sprach. Nichts außer dem Jüngsten Tag hätte als Entschuldigung genügt, wenn eine junge Frau erst um zwei Uhr nachts nach Hause kam, nach Hause geschwebt kam, als stünde die ganze Welt plötzlich Kopf.
Aber die Gesetzlose war ihr fremd geworden, mit einem Male fügsam und scheu. »Ach, Mama. Ich habe keine Zeit für Brötchen.« Nettie sah sie wütend an, und Delia konnte nicht anders, sie half beim Backen. In ihrem übernächtigten Taumel holte Delia sogar die Kleinen aus dem Bett, sorgte dafür, dass sie in ihre Schuluniformen schlüpften, und ihre Mutter knetete weiter und prügelte den Teig für seine Zähigkeit.
Das Geheimnis wuchs zwischen ihnen, zu unergründlich für ein Frühstück bei Brötchen und Bratensoße. Nicht dass Nettie Ellen noch groß Erklärungen gebraucht hätte. Fünfundsiebzigtausend Liebhaber der Sangeskunst alle an einem Ort, da würde ja wohl einer darunter sein, der dafür sorgte, dass Delia Zeit und Raum vergaß. Es stand ihr im Gesicht geschrieben: Das Mädchen war die Gefangene der Liebe. Seufzte vor sich hin wie ein Huhn auf dem Bratspieß. Deckte den Tisch wie in Trance, verteilte das Besteck, als lege sie Blumen auf ein Grab.
Nettie Ellen wartete schon seit einer ganzen Weile darauf, hatte sich gewappnet für den Zauber, der aus ihrem ältesten Kind einen anderen Menschen machte. Sie wusste, dass es irgendwann kommen würde, so plötzlich wie der Frühling – im einen Augenblick das Gras kahl und zerrupft, im nächsten voller Krokusse, gelb wie die Essenz der Sonne. Wie immer würde es die letzte, große Prüfung eines selbstlosen Mutterlebens sein: Wie sie all ihre Fürsorglichkeit ablegen und zulassen musste, dass ihr eigen Fleisch und Blut ihr fremd wurde.
Nettie hatte sich stets vorgenommen, dies letzte elterliche Opfer von sich aus zu bringen,
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