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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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bevor das Kind sie dazu zwang. Aber was sie nicht vorausgesehen hatte, war der alberne Umstand, dass ihre eigene Tochter Hemmungen vor ihr hatte, als hätte Nettie nicht jahrelang den Körper dieses Mädchens versorgt – krank, nackt, bedürftig –, als wüsste eine Mutter nicht, wozu der Leib eines Mädchens da ist. Alberne Scham, damit hatte sie gerechnet, aber dieses angstvolle Glühen im Verborgenen, das verstand sie nicht.
    Charles und Michael kamen in die Küche gestürmt, munter und quicklebendig von dem tiefen Schlaf, den Delia nie wieder finden sollte.
    Sofort fingen sie mit ihren unermüdlichen Frühstücksalbereien an, trällerten ihr etwas vor, reckten Nasen und Finger in die Luft. Die große Schwester drückte einfach nur ihre kurz geschorenen Köpfe an sich, einen in jeder Hand, und sah sie an, als wolle sie sich die Gesichter einprägen, bevor sie sich von der Klippe des Vergessens stürzte. Das jagte den beiden einen Riesenschrecken ein, und sie setzten sich ohne ein weiteres Wort an den Tisch.
    Es folgte der Auftritt von Lucille und Lorene, makellose Schleifen, glänzende Schuhe, alles in zweifacher Ausführung. Auch beim Anblick ihrer adretten kleinen Schwestern kämpfte Delia tapfer die Tränen nieder. Alle zusammen senkten Netties Kinder über Tellern und Tassen die Häupter zum Gebet. Delia war an der Reihe und sprach: »Wir danken dir, Gott, für all das Gute.« Die Silben rumpelten durch die Küche, polternde Wagons auf den Schienen der düsteren Vorahnung. Während ihre Tochter das Tischgebet sprach, bewegten Netties Lippen sich lautlos zu ihrer eigenen heimlichen Beschwörung. Ein einziger Ausflug, und ihr Kind war ihr für immer fremd geworden ? Aber selbst früher, als sie noch gar nichts zu verbergen hatte, hatte Delia sich nie zu einer Auskunft zwingen lassen.
    Als der Segen gesprochen war, hob Nettie den Kopf und musterte ihre zum Zombie gewordene Heilige. Und über dem dampfenden Brötchenberg sah sie eine Art Erscheinung. Ein Phantom, kaum eine Sekunde lang. Eine ganze Familie schien an diesem Tisch zu sitzen, das Bild blitzte auf und war wieder fort. Ein Halbrund von Gesichtern, alles Fremde und doch so vertraut wie die, die hier beisammen waren, so vertraut wie die eine, die ihr gegenübersaß. Es waren Gespenster; Gesichter und Namen, die sie nicht kannte, und doch schienen sie irgendwie zu ihr zu gehören, wenn auch aus der Ferne. Anfangs zwei oder drei. Und als Nettie genauer hinsah, wurden es mehr. Und bis das Bild verschwamm und verblasste, waren es schon mehr, als sie zählen konnte. Mehr als je in ihre schon jetzt zu volle Küche gepasst hätten.
    Meine Nachkommen. Die Erkenntnis traf sie mit solcher Heftigkeit, kein Zweifel konnte möglich sein. Meine Enkelkinder, die zu Besuch kommen. Aber ein dicker, undurchdringlicher Nebel von Jahren stand zwischen ihr und ihnen, sie waren undeutlich, unhörbar, unerreichbar.
    »Mama?«, fragte etwas, und sie stürzte zurück ins Jetzt. »Mama?« Die erste Frage jedes Kindes, das keine andere Antwort will als Ich bin da. Ihre Hände fühlten sich klebrig an von der Hitze. Der Teller unter der rasselnden Tasse füllte sich mit Flüssigkeit, so braun wie ihre Haut. Sie zitterte wie die alte Frau, die sie eine Sekunde zuvor gewesen war.
    »Jetzt esst schon auf«, sagte sie und tat, als habe sie den Schrecken ihrer Ältesten gar nicht bemerkt. Schließlich hatte Delia den ganzen Morgen nichts anderes getan als ihr Angst einzujagen. Da war es nur gerecht, wenn sie jetzt auch ein wenig abbekam. »Seht, dass ihr fertig werdet. Die Zeit bleibt nicht stehen, nur damit ihr trödeln könnt.«
    Die Kinder sprangen auf, als sie ihren Vater die Treppe herunterkommen hörten. Der Doktor erschien, in prachtvollem Sergeanzug, das frisch geplättete Hemd darunter so weiß, dass es schimmerte wie ein Stoff aus alter Zeit. Mit seiner bronzetönenden Stimme, einer Stimme, bei der es Delia immer wieder kalt den Rücken hinunterlief – Erschallet, Trompe- ten! –, verkündete er: »Scheint, dass sie einen großen Sieg für uns errungen hat. Unsere Miss Anderson.«
    »Sie war einfach vollkommen, Daddy. Als sänge Gott höchstpersönlich, am Vorabend des ersten Tags.«
    »Willst du wohl den Mund halten«, brummte Nettie. »Keine lästerlichen Worte an meinem Tisch.«
    William nickte. »Gutes Konzert also? Alles, was wir uns erhofft hatten?«
    Jede Hoffnung war weit übertroffen worden, ja im Nachhinein schien es, als habe man viel zu wenig erwartet. »Ein

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