Der Klang des Herzens
ihn an.
»Ich würde nicht gehen, wenn ich nicht müsste. Aber so ist das, wenn man erwachsen ist. Man braucht einen richtigen Job und ein Dach über dem Kopf.«
Thierry zeigte zur Decke.
»Ich kann mich nicht ewig hier verstecken. Ich brauche ein richtiges Zuhause. Bevor der Winter kommt.«
Der Junge versuchte tapfer, sich nichts anmerken zu lassen, aber Byron konnte sehen, wie hart es ihn traf. Und ihn, Byron, ebenso. »Tut mir leid, T. Ich bin gern mit dir zusammen.« Er hatte sich an Thierry gewöhnt, daran, dass er ständig irgendwo an einem Baum hing, mit den Hunden herumtollte oder mit konzentriert zusammengezogenen Brauen die Waben einer Speisemorchel nach Insekten absuchte. Byron hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Er war froh, dass es hier relativ düster war. »Tut mir leid«, wiederholte er.
Um einen Vorwand zu haben, sich abzuwenden, griff er nach hinten und kraulte Megs Kopf. Thierry erhob sich und
ging um die Kiste herum. Er setzte sich neben Byron und legte seinen Kopf an dessen Oberarm. So verharrten sie mehrere Minuten lang. Isabels Musik erreichte ein Crescendo und brach dann ab. Er konnte hören, wie sie wieder und wieder dieselbe Note spielte, als würde sie sie einfach nicht richtig hinbekommen.
»Ich lass dich wissen, wo ich bin«, erklärte Byron ruhig. »Ich schreib dir einen Brief, wenn du willst. Oder du kommst mich besuchen.«
Thierry rührte sich nicht.
»Du verlierst mich nicht, Junge. Du hast ja Pepper, und ich hab seine Mum, das wird uns immer verbinden. Und es gibt ja noch das Telefon.«
Das Telefon. Vollkommen nutzlos. Byron schaute auf den dunklen Haarschopf hinunter. Er wartete einen Augenblick.
»Warum willst du nicht reden, Thierry? Ich weiß, du kannst. Was ist so schwer, dass du’s nicht sagen kannst?«
Byron konnte sein Gesicht nicht sehen, aber die Art, wie der Junge plötzlich erstarrte, brachte ihn auf einen fürchterlichen Gedanken.
»Thierry? Ist irgendwas Schlimmes passiert?«, stieß er gepresst hervor.
Ein fast unmerkliches Nicken, das Byron mehr spürte – an seinem Arm – als sah.
»Etwas anderes als das, was mit deinem Dad passiert ist?«
Wieder ein Nicken.
»Und du willst es nicht sagen?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
Byron wartete. Dann sagte er leise: »Weißt du, was ich mache, wenn was Schlimmes passiert? Ich erzähl’s Meg oder Elsie.« Er schwieg, ließ es einsinken. »Hunde sind äußerst nützliche Wesen. Du kannst ihnen alles erzählen. Sie hören immer zu, aber sie verraten nichts. Wie wär’s, wenn du’s Pepper erzählst, und ich höre derweil weg?«
Keine Regung. Draußen flatterte ein Vogel mit klatschenden Schwingen aufgestört davon.
»Komm schon, T. Lade es ab. Danach geht’s dir besser.«
Byron starrte schweigend zur Wand. Dann, als er es schon fast aufgeben wollte, hörte er ein zögerndes Flüstern. Das Kratzen der Pfoten des Welpen, der in den Armen des Jungen zappelte. Als Thierrys Stimme verklang, machte Byron die Augen zu.
Die Sonne, ein feuerroter Ball, versank hinter den Bäumen, sandte leuchtende Strahlen aus, die lediglich als ein schwaches Glimmen durchs dichte Laubwerk drangen. Isabel ging darunter spazieren, im Kopf die Melodie, die sie soeben gespielt hatte. Ihre Finger zuckten, formten wie von selbst die vertrauten Griffe. Einst war die Musik ihr ständiger Begleiter gewesen, in ihrem Kopf, in ihrer Seele, kaum unterbrochen durch die Anforderungen ihrer Kinder oder die Unterhaltungen mit ihrem Mann. Jetzt dagegen wurde sie häufig unterbrochen, von den Realitäten des Alltags verzerrt.
Auch heute war es, wie fast immer, das Geld. Matt hatte seine nächste Rechnung zwar noch nicht geschickt, aber laut ihrem kleinen Büchlein schuldete sie ihm noch Tausende für neue Fenster und das Leasing von Baugerät. Sie hatte geglaubt, mit dem Verkauf der Geige die restlichen Renovierungsarbeiten finanzieren zu können, aber das Haus war noch immer unfertig, und jetzt redete Mr Cartwright auch noch von einer Steuer auf Veräußerungsgewinne.
»Wieso sollte ich für den Verkauf von etwas, das mir gehört, Steuern zahlen?«, hatte sie ihn entsetzt gefragt, als er sie neulich anrief. »Ich will doch bloß irgendwie über die Runden kommen.« Er hatte keine Antwort darauf gehabt. Sie hatte ihren gesamten Schmuck verkauft, bis auf den Ehering. Trotzdem musste sie zusehen, wie ihr Kapital von Woche zu Woche dahinschmolz.
»Brahms«, sagte sie laut. »Zweiter Satz. Komm schon, konzentrier dich.«
Heute Abend
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