Der Klang des Herzens
über das, was er unabsichtlich ihrem Sohn angetan hatte. Sie erinnerte sich, dass Laurent Thierry an jenem letzten Morgen, beim Frühstück, einen Kuss aufs Haar gegeben und gemeint hatte, wie erwachsen er doch schon sei. War das eine verschlüsselte Botschaft gewesen? Laurents Art, Thierry zu mahnen, den Mund zu halten? War es ihm wichtiger gewesen, seinen Ehebruch geheim zu halten, als seinem Sohn den inneren Frieden zurückzugeben? Oder hatte er gesagt,
Thierry sei so erwachsen, weil er schon so erwachsen war?
Es korrumpierte alles, dieses Wissen. Es machte einen ganz wirr im Kopf.
Matt war am Tag nach dieser Entdeckung frühmorgens aufgetaucht. Als sie seinen Lieferwagen hörte und das Klopfen an der Hintertür – sie hatte die Schlüssel unter den Fußmatten einkassiert -, hatte sie aufgemacht und ihm ganz unverblümt gesagt, dass es ihr jetzt nicht passe.
»Aber das Bad, ihr braucht doch das Bad«, hatte er gesagt. »Damit liegst du mir doch schon seit Wochen in den Ohren. Ich hab alles hinten im Wagen.«
Er hatte furchtbar ausgesehen, unrasiert, unsauber, sein T-Shirt war ganz grau und knittrig, als habe er darin geschlafen.
»Nein«, hatte sie gesagt, »heute passt es nicht.«
»Aber du hast doch gesagt, du willst …«
»Wir baden seit Monaten in dieser winzigen Zinkwanne«, hatte sie ihn unterbrochen, »das macht jetzt auch keinen Unterschied mehr.« Und damit hatte sie ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Auch wenn Kitty jetzt wieder jammern würde, sie hausten hier wie die Steinzeitmenschen.
Sie hasste Matt dafür, dass er ein Mann war. Dass er mit ihr geschlafen hatte, obwohl er verheiratet war, und hinterher nicht mal so viel Anstand besaß, sich dafür zu schämen. Sie zuckte innerlich zusammen, wenn sie daran dachte, wie gedankenlos sie seine Frau betrogen hatte. Hatte sie Laura nicht genau das angetan, was man ihr angetan hatte? Weshalb sie sich jetzt so quälte?
Sonst tauchte niemand mehr auf. Die wenigen Telefonanrufe ignorierte sie. Äußerlich jedoch gab sie eine virtuose Vorstellung. Sie kochte, bewunderte die neuen Küken und hörte aufmerksam zu, als Kitty mit Anthony aus dem Krankenhaus zurückkam, wo sie Asad besucht hatten, der sich glücklicherweise
gut von seinem Asthmaanfall erholte. Sie freute sich, ihren Sohn wieder sprechen zu hören. Zögernd zunächst, unsicher, hatte er beim Frühstück gefragt, was er sich nehmen durfte, anstatt wie sonst einfach einen Teller Cornflakes runterzuschlingen. Er hatte seinen Hund gerufen, und später am Nachmittag hatte sie ihn lachen hören, als Pepper laut bellend ein Kaninchen verjagte.
Jetzt war sie froh, dass die Kinder nicht mehr nach Maida Vale zurückwollten, denn aus dem verlorenen Idyll, dem kuscheligen Zuhause war ein Ort der Lüge und des Betrugs geworden.
Nachts, wenn die Kinder schliefen und sie nicht Geige spielen konnte, durchstreifte sie das unfertige Haus, verfolgt von Mücken, die sich durch defekte Fenster Einlass verschafft hatten, und dem Huschen nächtlicher Tierchen unter den Dielenbrettern oder den Dachbalken. An den nackten, aufgebrochenen Wänden störte sie sich nicht mehr. Die Tatsache, dass dieses Haus stellenweise nur eine leere Hülle war, machte es nicht weniger zu einem Zuhause als der angeblich sichere Hafen in London. Es ging nicht um Dekor oder Polstermöbel oder darum, wie viele Dielenbretter fehlten. Es ging nicht um Reichtum und Sicherheit.
Sie wusste nicht mehr, was es war, das ein Zuhause ausmachte. Außer natürlich die beiden schlafenden Körper oben in ihren Zimmern.
Lauchhederich. Behaartes Schaumkraut. Wilder Thymian und Pfifferlinge. Byron schritt am Waldrand entlang, wo seit Generationen bebaute Felder an alte Bäume anbrandeten, und pflückte sich im Zwielicht der hereinbrechenden Nacht sein Abendbrot. Er hatte Gewicht verloren, was aber, wie er vermutete, weniger an seinen derzeitigen Lebensumständen lag als daran, dass er kaum Appetit hatte.
Die letzten Tage hatte er unten im Heizungskeller verbracht,
hatte die heißen Stunden verschlafen und war erst abends herausgekommen, um im Wald umherzustreifen und sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was er jetzt tun sollte.
Sie fürchtete sich jetzt vor ihm, so viel war klar. Die Art, wie sie bei seinem Anblick aufgesprungen war, dieses künstliche Lächeln, ihr munterer Ton, als sei sie entschlossen, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. So eine Reaktion war ihm nicht neu: Er hatte sie bei jenen Dorfbewohnern erlebt, die ihn
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