Der Klang des Herzens
nicht persönlich kannten, sondern nur vom Hörensagen.
Wenn Byron sich vorstellte, dass Isabel jetzt Angst vor ihm hatte, dass sie womöglich glaubte, er wäre fähig, ihr oder ihren Kindern Schaden zuzufügen, dann legte sich etwas Schweres über ihn wie ein erstickender, dunkler Schleier.
Es hatte keinen Zweck mehr, hier in dieser Gegend zu bleiben. Hier würde ihn seine Vergangenheit, wie verzerrt und fehlinterpretiert auch immer, nie loslassen. Sie würde ihn verfolgen wie ein übler Geruch. Jedenfalls solange Menschen wie Matt hier lebten. Und die Natur wurde immer mehr zugebaut, »innovative« neue Bauprojekte, Industriegebiete, mehr und mehr landwirtschaftliche Nutzflächen. Und das bedeutete, dass sein Tätigkeitsfeld schrumpfte, dass es immer weniger Einheimische gab, die ihm noch Arbeit geben konnten.
Er hatte gesehen, was für »alternative Berufsmöglichkeiten« auf einen wie ihn warteten: Regaleinräumer im Supermarkt, Wachmann bei einem privaten Wachdienst, Taxifahrer. Wenn Byron sich vorstellte, wie er auf einem asphaltierten Parkplatz oder in einer zubetonierten Tiefgarage arbeiten und sich von einem Vorgesetzten vorschreiben lassen musste, wann er seine fünfzehnminütige Mittagspause machen durfte, einen Job, für den man ihm widerwillig den Mindestlohn bezahlte, dann schien etwas in ihm abzusterben.
Ich hätte mich nicht mit Matt anlegen sollen, sagte er sich zum hundertsten Mal. Ich hätte meine Klappe halten sollen. Aber das glaubte er selbst nicht.
»Hallo?«
Sie hatte ihre erste Adresszeile hinterlassen: 32 Beaufort House, Witchtree Gardens. Isabel fand es eigenartig, dass sie es für nötig befand, ihre Adresse an den Anfang des Briefs an ihren Geliebten zu setzen. So pingelig. Fast, als fürchtete sie, er hätte sie mit einer anderen verwechseln können.
Isabel hatte achtundvierzig Stunden nach Kenntnis der Briefe bei der Auskunft angerufen und herausgefunden, dass es nur eine Karen gab, die unter dieser Adresse lebte. Karen Traynor, Zerstörerin von Ehen und Erinnerungen. Nur zwei Worte. Ein Name. Und so viel Kummer und Elend für so viele unterschiedliche Leute. Isabel stellte sich vor, dass sie groß, schlank, blond, sportlich war. Vielleicht Ende zwanzig. Tadellos zurechtgemacht – typisch eben für eine Frau, die keine Kinder und daher Zeit hatte, sich ausschließlich mit sich selbst zu beschäftigen. Ob sie auch mit Musik zu tun hatte? Oder hatte sich Laurent darin gefallen, sich eine zu suchen, deren Gedanken ausschließlich um ihn kreisten und nicht ständig irgendwo anders waren?
Sie wusste nicht, was sie sagen würde, auch wenn sie sich Hunderte von Varianten ausgemalt hatte, Tausende von Beleidigungen, die sie ihr an den Kopf werfen wollte. Sie anschreien. Sie zur Rede stellen. Wo war das ganze Geld hingekommen? Was hatten sie damit gemacht? Wie viele teure Wochenenden in Paris? Wie viele Aufenthalte in Luxushotels? Während sie, Isabel, geglaubt hatte, ihr Mann sei auf Geschäftsreise? Sie wollte dieser Frau klarmachen, was sie angerichtet hatte, dass ihre Ehe – egal, was Laurent auch gesagt haben mochte (was genau hatte er gesagt?) – noch nicht tot gewesen war, dass sie noch geatmet, pulsiert, Leidenschaft gekannt hatte. Sie würde diesem egoistischen, selbstsüchtigen, gedankenlosen Biest ordentlich den Kopf zurechtrücken. Der sollten die Augen aufgehen!
Doch dann hörte es auf zu klingeln, und eine gepflegte,
ganz gewöhnliche Frauenstimme – nicht viel anders als ihre – sagte: »Hallo?« Und noch einmal: »Hallo?«
Und Isabel, eine Frau, die ihr Leben für leer hielt, wenn ihr Kopf nicht voller Musik war, brachte kein Wort heraus, konnte nur der Stille lauschen.
Der dritte Tag brachte schließlich das Ende der Hitzewelle. Dunkle Wolken zogen auf, rasten über den Himmel, ein fernes Donnergrollen, wie Kesselpauken, die Anlauf nahmen für ein Crescendo, dann ein heftiger Windstoß, und schon brach das Gewitter los. Die Wildtiere suchten hastig Deckung, wo immer sie sie finden konnten, Wasser rauschte gurgelnd in Abzugsgräben und Ackerfurchen.
Byron saß unter dem Haus und lauschte, zuerst dem Quieken und Kreischen von Isabel und Kitty, die hinausliefen, übers Gras, dass es nur so spritzte, um die Wäsche von der Leine zu holen, dann, mit einem trockenen Lächeln, Thierry, der am Heizungskeller vorbeirannte und dabei vollkommen selbstvergessen vor sich hin sang: »Es regnet, es gießt! Der alte Mann niest!«
Die Hunde sprangen auf, warteten auf ein
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