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Der Klang des Herzens

Titel: Der Klang des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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Geruch hing in der reglosen Luft.
    Er ist also die ganze Zeit über hier gewesen, dachte sie verblüfft, hier unter unserm Haus.
    »Ich weiß, wie das aussieht, aber … Ich hab einfach ein Dach über dem Kopf gebraucht.«
    »Aber warum hast du nichts gesagt? Warum hast du mich nicht gefragt? Du hättest mir sagen sollen, dass du keine Bleibe mehr hast.«
    »Matt. Was er zu dir gesagt hat. Ich wollte nicht, dass du
denkst, ich sitze hier unten und …« Er stolperte. »Mein Gott, Isabel, es tut mir leid, ehrlich, ich …«
    Sie ließ die Tür los und ging weiter in den Raum hinein. Angst hatte sie nicht, im Gegenteil: Jetzt, da sie wusste, dass er in diesen letzten schrecklichen Tagen hier gewesen, dass sie doch nicht allein gewesen war, fühlte sie sich seltsam getröstet.
    »Nein«, widersprach sie, »ich hätte nicht auf Matt hören sollen. Was immer er gesagt hat, es spielt keine Rolle.« Sie schüttelte den Kopf.
    »Ich muss mit dir über ihn reden.«
    »Nein«, entgegnete sie fest, »ich will nicht über ihn reden.«
    »Dann solltest du eins wissen«, fuhr er fort. »Ich bin kein gewalttätiger Mensch. Dieser Mann – der Mann, den Matt erwähnte – hat regelmäßig meine Schwester verprügelt. Sie hat’s mir nicht gesagt. Lily, meine Nichte, ist schließlich damit zu mir gekommen. Und als er herausfand, dass Lily den Mund aufgemacht hat, hat er sich sie vorgenommen.« Seine Stimme verhärtete sich. »Sie war erst vier.«
    Isabel zuckte zusammen. »Byron, nicht. Du musst mir nicht …«
    »Aber es war ein Unfall, ein Versehen, ganz ehrlich.«
    Man hörte ihm an, wie sehr er noch immer darunter litt.
    »Ich hab alles verloren. Mein Zuhause. Meine Zukunft. Meinen guten Ruf.«
    Ihr fiel ein, was er ihr neulich erzählt hatte. »Deshalb konntest du also nicht Lehrer werden.«
    »Ich hatte bis dahin noch nie einen Menschen geschlagen. Noch nie, in meinem ganzen Leben nicht.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern ab: »Nach so was ist nichts mehr, wie’s mal war, Isabel. Und es sind nicht bloß die Schuldgefühle. Es ist die Art, wie sich die Dinge formen. Wie sie dich formen.« Er hielt inne. »Irgendwann fängst du an, dich so zu sehen, wie die anderen dich sehen.«

    Sie starrte ihn an.
    »Ich nicht.«
    Sie standen im Dunkeln, keiner konnte den anderen richtig erkennen, zwei Silhouetten, zwei bloße Schatten. Monatelang hatte sie in jedem Mann Laurent gesehen. In der Form der Schultern, ein Männerlachen irgendwo auf einer belebten Straße. Sie hatte im Schlaf mit ihm geredet, hatte geweint, wenn sie ihn nicht heraufbeschwören konnte. Und in einem Anfall von Wahnsinn hatte sie ihn mit Matt verwechselt. Aber jetzt, endlich, war er fort. Sie spürte es. Seine Abwesenheit. Aber nicht als Schmerz, sondern einfach als das, was es war: Er war weg. Laurent hatte aufgehört zu existieren.
    Aber wer war dieser Mann?
    »Byron?«, flüsterte sie und streckte unsicher die Hand aus. Was machte sie da? Sie wusste es nicht. Was wussten diese Finger überhaupt? Die Musik, die sie dem Instrument entlockt hatten, war falsch, eine Ablenkung. Sie hatte ihr Vertrauen in etwas gesetzt, was eine Illusion war. Das wusste sie jetzt. »Byron?«
    Sie streckte die Hand noch weiter aus und fand ihn, fand seine Hand, die sich um die ihre schloss. Seine Haut war rau und schwielig, warm in der Abendkühle. Die Welt verschwamm. Sie roch nicht länger die feuchte, erdige Luft, den Duft der Nachtkerzen, den Schwefelgeruch des Boilers. Ein Hund winselte, und Isabel spähte durch die Dunkelheit, bis sie sah, dass er seinen Blick angehoben hatte und sie ansah.
    »Du musst nicht hier unten bleiben«, flüsterte sie. »Komm mit nach oben. Komm rauf zu uns.«
    Er hob die Hand, ganz langsam, und wischte mit dem Daumen die Nässe von ihrem Gesicht. Sie legte den Kopf zur Seite, in seine Hand. Ihre eigene Hand hob sich wie von selbst, legte sich über die seine, dort, wo sie an ihrer Wange ruhte. Doch dann, als sie einen Schritt näher trat, flüsterte eine Stimme: »Isabel, ich kann nicht …«

    Isabel sprang zutiefst beschämt zurück. Sie musste an Matt denken, an seine Hände, an ihre Schamlosigkeit.
    »Nein«, sagte sie rasch, »ich muss mich entschuldigen.« Sie fuhr herum und rannte die Stufen hinauf, zu schnell, um seine gestammelte Entschuldigung zu hören.

EINUNDZWANZIG
    E lf Eier, noch warm. Kitty nahm eins, vorsichtig darauf bedacht, die empfindliche Schale nicht zu zerdrücken, und hielt es sich an die Wange. Das reichte fürs Frühstück

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