Der Klang des Herzens
konnten. »Ich bin ja noch da.«
Erst als sie ihn in den Rettungswagen einluden, trat Laura vor, griff in ihre Handtasche und drückte ihm ein paar Papiere in die bandagierte Hand.
»Ich weiß zwar nicht, was das jetzt noch wert ist, aber Sie sollten es trotzdem haben«, sagte sie brüsk. Ohne ihm Zeit für eine Antwort zu lassen, wandte sie sich ab und ging.
»Laura?«, sagte Matt.
Sein Kopf und sein Arm waren dick eingebunden. Mit einer Decke um die Schultern stand er zwischen zwei Polizisten. Er war wie ein Kind, hilflos, verwundbar. Es ist nichts mehr von ihm übrig, dachte sie. Er ist ebenso zusammengebrochen wie das Haus.
Und am Ende war es ganz einfach. Sie drehte sich zu Nicholas um, hob die Hand an seine Wange, spürte seine Haut unter ihren Fingerspitzen, spürte die überraschende Stärke seiner Kiefer. Ein guter Mann. Ein Mann, der sich aus seiner Talsohle herausgekämpft hatte.
»Es tut mir so leid«, sagte sie leise. Dann nahm sie ihren verstörten Mann beim Arm und führte ihn zu einem Streifenwagen.
FÜNFUNDZWANZIG
D ie erste Nacht verbrachten sie bei Byron im Krankenhaus. Thierry wollte ihn nicht verlassen, und sie hatten sowieso nichts mehr, wo sie hingehen konnten. Als die Schwestern hörten, was passiert war, boten sie ihnen einen eigenen kleinen Seitenflügel an. Für Kitty und Thierry wurden Betten ins Zimmer gerollt, Isabel setzte sich dazwischen und versuchte, während sie schliefen, nicht daran zu denken, was hätte passieren können.
Von draußen drangen die zeitlosen Geräusche eines Krankenhauses herein: das leise Quietschen von Gummisohlen auf PVC, leise Gespräche, ein sporadisches lautes Piepen, wenn jemand Hilfe brauchte. Sie nickte mehrmals ein, und dann hörte sie wieder dieses hässliche reißende, kreischende Geräusch des einstürzenden Hauses, hörte den hohen, unheimlichen Schrei ihrer Tochter und Thierrys fassungslose Stimme: »Mum?« Und dann wachte sie mit einem Ruck auf.
Vor sechs Monaten, als sie noch nach solchen Zeichen Ausschau gehalten hatte, hätte sie gesagt, dass Laurent sie beschützt, dass er sie gerettet hatte. Aber jetzt wusste sie, dass das nicht stimmte. Sie warf einen Blick zu dem Mann im großen Bett. Es gab keine Vorsehung, keine göttliche Intervention. Entweder man hatte Glück, oder man hatte es nicht. Entweder man starb, oder man starb nicht.
Kurz vor fünf Uhr graute der Morgen. Kaltes blaues Licht fiel durch die Schlitze der Jalousien herein und begann den Raum allmählich zu erhellen. Sie streckte sich, dehnte ihre verkrampften Nacken- und Schultermuskeln. Als sie sicher
war, dass ihre Kinder noch schliefen, trat sie zu Byron ans Bett und setzte sich. Sein Gesicht war ruhig, gelassen, entspannt. Keine Spur seiner sonstigen Wachsamkeit, fast als würde er auf einen Schlag warten. Keine Spur von Vorsicht, Misstrauen oder Zorn.
Sie musste daran denken, wie er ohne Zögern losgerannt war, als er hörte, dass Thierry sich möglicherweise in Gefahr befand. Sie dachte an sein frohes, selbstbewusstes Strahlen, gestern, als er sie sah. Sein Blick war so direkt, so voll von etwas gewesen, das selbst er, wie Isabel vermutete, nicht verbergen konnte. Und zum ersten Mal seit Laurents Tod sah Isabel eine Zukunft oder die Aussicht auf eine. Das Lächeln ihres Sohnes, seine klare, helle Stimme. Ihre Tochter, die wieder ein unbeschwerter, mürrischer Teenager sein durfte. Sie sah eine Aussicht auf Glück.
Er empfand dasselbe für sie, da war sie ganz sicher. Nein, es ist nicht impulsiv, sagte sie sich, es ist das Überlegteste, was ich je getan habe. Sie senkte langsam den Kopf und gab Byron einen Kuss auf die Lippen. Sie waren überraschend weich, schmeckten nach Krankenhaus, nach Desinfektionsmitteln, Seife und darunter – ein Hauch von Wald.
»Byron«, flüsterte sie und küsste ihn noch einmal. Seine zerschundenen Hände tasteten nach ihr und fanden sie, drückten sie an sich. Er murmelte ihren Namen. Sie ließ sich an ihn sinken und musste plötzlich gegen Tränen ankämpfen, Tränen der Dankbarkeit dafür, dass er noch da war, dass sie vielleicht doch noch einmal geliebt, gehalten und begehrt werden würde. Sie war froh, dass Laurent nicht länger zwischen ihnen stand. Sie empfand keinerlei Kummer oder Schuldgefühle. Anders als damals bei Matt.
Er war Byron. Nur Byron.
Man kann sich für das Glück entscheiden. Oder dagegen.
Aber als sie kurz darauf den Kopf hob und ihn anschaute, erschrak sie. Er machte eine gequälte Miene.
»Hast du
Weitere Kostenlose Bücher