Der Klang des Herzens
die erdrückenden Schuldgefühle, wenn sie wieder einmal irgendwo in einem Hotel war, weit weg von zu Hause, und daheim ihr Kind krank im Bett lag. Oder die rührenden Zettel, die Kitty ihr manchmal in den Koffer schmuggelte: »Ich hab dich lieb, Mummy. Du fehlst mir, wenn du weg bist.« Ihr fehlte ihre Familie auch, sehr sogar, es quälte sie geradezu, die Schuldgefühle, das schlechte Gewissen. Aber dank Laurent und Mary besaß sie die Freiheit, das zu tun, was sie am meisten liebte. Und je älter sie wurde, je mehr Mütter sie kennenlernte, desto froher war sie darüber, zu jenen wenigen Glücklichen zu gehören, die der Heirat und dem Muttersein nicht ihre Kreativität hatten opfern müssen. Oder, noch wichtiger, ihre Leidenschaft.
Aber es war nicht immer leicht. Laurent liebte noch immer ihre Impulsivität, ließ sie gewähren, selbst wenn sie ganz wilde Ideen hatte, wie das eine Mal, als sie die Kinder aus dem Unterricht herausholte, um eine Ballonfahrt zu unternehmen. Oder wenn sie Teller wegwarf, weil die Farbe sie irritierte, dann aber vergaß, neue zu kaufen … Was er aber nicht vertrug, war, wenn er das Gefühl hatte, nicht das Wichtigste in ihrem Leben zu sein. Sie lernte die Gefahrenzeichen zu erkennen. Wenn er glaubte, sie ginge mal wieder zu sehr in ihrer Musik auf. Dann wurde er gereizt und schnippisch und sagte, er würde sich freuen, wenn seine Frau gelegentlich mal wieder
beschließen könnte, anwesend zu sein, wenn sie anwesend war. Er merkte es immer, wenn sie mit ihren Gedanken woanders war – bei einer besonders kniffligen Sinfonie -, aber so tat, als würde sie sich mit ihm über Kittys Tag unterhalten. Sie war klug genug, in solchen Fällen nachzugeben und ihm interessierte Fragen nach seiner Arbeit zu stellen – soweit sie dazu in der Lage war. Laurents Beruf als Investmentbanker war ein Buch mit sieben Siegeln für sie. Sie kapierte nie, was genau er eigentlich machte. Alles, was sie wusste, war, dass er genug Geld verdiente, um die Rechnungen bezahlen zu können und regelmäßig Urlaub mit der Familie zu machen. Bei diesen Gelegenheiten ließ sie dann gewöhnlich ihre Geige zu Hause und widmete sich ganz Mann und Kindern.
Die größte Krise erlebte sie, als sie feststellte, dass sie wieder schwanger war. Sie konnte es trotz aller Anzeichen kaum glauben, als sie den blauen Punkt auf dem Röhrchen sah. Und an die Zukunft dachte und daran, was das für sie und ihre Karriere bedeutete. Sechs Jahre nach Kittys Geburt hatte sie mit so etwas nicht mehr gerechnet, und sie geriet in Panik. Sie konnte jetzt kein Baby bekommen. Sie hatte es gerade erst geschafft, zur ersten Geigerin aufzusteigen; für den Frühling waren Tourneen nach Wien und Florenz geplant. Wenn sie schon mit einem Kind – noch dazu einem so umgänglichen wie Kitty – nicht zurechtkam, wie sollte es dann erst mit zweien werden?
Sie überlegte mehrmals, es Laurent gar nicht erst zu sagen, bis sie es dann doch tat.
Er reagierte auf die Neuigkeit, wie nicht anders zu erwarten, mit Freude und Begeisterung – und dann mit Entsetzen, als sie ihm gestand, was sie in Betracht zog.
»Aber wieso denn?«, rief er aufgebracht. »Du hast doch Mary und mich. Und Kitty würde sich riesig über eine Schwester oder einen Bruder freuen – wie oft hat sie uns deswegen angebettelt.«
»Aber Laurent«, entgegnete sie, »wir waren uns doch einig: keine Kinder mehr. Zwei Kinder, das würde ich einfach nicht schaffen.«
»Du brauchst ja nicht mal eins zu schaffen«, versetzte er, »und mich hat’s nie gestört. Wie kannst du bloß daran denken, mir – uns – dieses Kind zu verwehren, bloß weil es nicht in deinen Terminplan passt?!«
Seine Miene war eindeutig: Sie musste nachgeben. Er verlangte ja sonst nur so wenig.
Sie verschwieg ihm ihre dunkleren Gedanken während der Zeit, in der die Schwangerschaft ihren Fortgang nahm und als die Geburt schließlich unmittelbar bevorstand. Aber er behielt wieder einmal recht: Als Thierry eintraf, die Ärmchen protestierend von sich gestreckt – vielleicht eine instinktive Reaktion auf die Unerwünschtheit seiner Existenz -, da passierte das Gleiche wie bei Kitty: Sie verliebte sich rettungslos in ihr Kind. Und war heilfroh, drei Monate später wieder zur Arbeit zurückkehren zu dürfen.
Isabel wickelte sich fester in ihren Schal. Sie schlug den schmalen Waldweg ein, über üppigen, feuchten Wiesenkerbel und lange Gräser, die an ihren Stiefeln klebten und ihr Vorwärtskommen behinderten.
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