Der Klang des Herzens
Es war das erste Mal seit Wochen, dass sie allein war. Sie hatte die Kinder zwei Stunden zuvor zur Schule gebracht. Thierry war ihrer Umarmung entschlüpft und hatte sich mit hängenden Schultern in seiner Schuluniform auf den Weg ins Schulgebäude gemacht. Kitty hatte ihre übliche, wild entschlossene Miene aufgesetzt.
Nun war sie froh, mal wieder allein sein zu können – sie hatte sich weiß Gott nach ein wenig Zeit ganz für sich gesehnt. Aber sie vermisste die Kinder. Ohne ihr Getrampel und Geschrei wirkte das Haus seltsam traurig, ja erdrückend. Eine Stunde später wurde ihr klar, dass sie etwas tun musste, wenn sie nicht depressiv werden wollte. Die Umzugskartons weiter
auszupacken brachte sie einfach nicht über sich. Und die geradezu herkulische Aufgabe anzupacken, das Haus zu putzen, überstieg ihre Kräfte. Daher entschloss sie sich, einen Spaziergang zu machen. Schließlich gab es nichts, das ein Spaziergang nicht wieder in Ordnung bringen konnte, wie Mary ihr oft genug versichert hatte.
Sie beschloss, durch den Wald zum Dorfladen zu laufen. Milch einzukaufen, was fürs Abendessen – das war immerhin ein Ziel. Sie würde ein Gulasch für die Kinder machen oder ein Hähnchen braten.
Irgendwie fiel es ihr draußen im Freien leichter, an Laurent zu denken. Fast ein Jahr nach seinem Tod stellte sie fest, dass sie nun mehr und mehr in der Lage war, an all das Schöne zu denken, das sie miteinander erlebt hatten, und nicht mehr so sehr an das Schlimme, an seinen Tod mit all den Folgen. Die Traurigkeit würde zwar nie ganz verschwinden, wie sie gehört hatte, aber es würde mit der Zeit immerhin erträglicher werden.
Die Hände in den Manteltaschen, atmete sie tief die würzige Luft ein, den frischen Duft der neuen, grünen Vegetation. Ihr Blick fiel auf kleine Knospen, die überall, vor Baumstämmen und Wegen, aus der Erde spitzten und einen Hinweis darauf gaben, wo früher vielleicht einmal Blumenbeete gewesen sein mochten. Vielleicht sollte ich dir einen Garten anlegen, Laurent, dachte sie. Aber wie unwahrscheinlich das war, wusste sie selbst: Harken, jäten und in der Erde graben gehörten zu den Dingen, auf die eine Geigerin tunlichst verzichten sollte.
Sie erreichte den Wald und ging an dessen Rand entlang, den See zu ihrer Linken. Wo war noch diese Lücke im Gehölz, die sie gesehen zu haben glaubte? Ach ja, da war sie. Geduckt schlüpfte sie hinein. Hier war der Boden sogar noch unebener als um das Haus herum. Sie drehte sich kurz um und spähte zu dem großen, dunkelroten Herrenhaus mit seinen
ungleichen Fenstern zurück. Es wirkte kalt und abweisend. Noch nicht ihres. Noch kein Zuhause.
So darfst du nicht denken, schalt sie sich. Es wird unser Zuhause werden, wenn wir es nur wollen. Immerhin hatten sie jetzt warmes Wasser, wenn auch zu einem exorbitanten Preis. Und in einigen Zimmern herrschte eine vage, metallisch riechende Wärme. Der Klempner hatte gemeint, die Heizkörper gehörten dringend entlüftet, war aber so arrogant gewesen, dass sie davon abgesehen hatte nachzufragen, was er damit meinte. Und da die Badewanne einen klaffenden Riss aufwies, mussten sie sich, sehr zu Kittys Entsetzen, jeden Morgen in einer Zinkwanne waschen. Oder am Spülbecken in der Küche.
Sie blieb kurz stehen und bewunderte ein paar riesige, schirmartig geformte Pilze, die auf einem umgefallenen Baumstamm wucherten. Dann schaute sie nach oben, zum Himmel, der sich überm Netz der kahlen Äste milchig abzeichnete. Die Luft war kalt und feucht. Sie atmete in ihren Schal und freute sich an der warmen Luft, die dabei über ihre Haut strömte. Es roch herrlich nach Moos, feuchtem Holz und gesundem Verfall, anders als im Haus, wo sie oft nicht sicher war, was genau da ungesehen verrottete.
Das scharfe Knacken eines Zweigs ließ sie erschrocken innehalten. Als Großstädterin dachte sie natürlich sofort an irgendwelche axtschwingenden Mörder. Mit angehaltenem Atem drehte sie sich langsam zu dem Geräusch um.
Keine zehn Meter von ihr entfernt stand ein prächtiger Hirsch, dessen mit Bastfetzen behaftetes Geweih den kahlen Ästen der Bäume ähnelte. Aus seinen mächtigen Nüstern drangen stoßweise weiße Atemwölkchen. Er blinzelte mehrmals.
Isabel war viel zu verzaubert, um Angst zu haben. Hingerissen starrte sie dieses herrliche, wilde Geschöpf an. Dass solche Wesen noch frei in diesem Land herumliefen! In diesem kleinen, dicht besiedelten Land.
»Oh.«
Vielleicht war es dieser Laut, der den Bann brach,
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