Der Klang des Todes - Bartosch Edström, C: Klang des Todes - Furioso
verfehlte diesen aber, da ihre Muskeln in den Schultern verspannt waren. Beim dritten Versuch traf sie ihr Ziel, woraufhin ihre Hand zu Boden klatschte.
Sie bereute es, dass sie diesen letzten Pink Paradise mit dem lustigen Strohhalm und den Karambolescheiben auf dem Glasrand auch noch getrunken hatte. Happy Hour zwischen ein und zwei Uhr nachts. Wie happy war sie eigentlich gewesen? Ihre Kleider waren auf dem Boden verteilt und bildeten eine Spur vom Schreibtisch zum Bett. Die am Anfang des Abends noch strahlend saubere Bluse wies eine widerwärtige Fleckenparade der verschiedenen Stationen des Abends auf: Kirschroter Lippenstift, Bier, Rotweinsauce, Irish Coffee und last but not least ein ordentlicher Spritzer Pink Paradise wie eine traurige Schulterklappe rechts oben. Sie war nicht sicher, ob dieser Fleck im Originalzustand dorthin geraten war oder erst noch einen Abstecher in ihren Magen unternommen hatte.
Als sie in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen war, war sie zu aufgedreht gewesen, um gleich zu Bett zu gehen. Stattdessen hatte sie sich als Anniechance bei »MeetMarket« eingeloggt und zwanzig Minuten lang mit Mike39 gechattet. Sie selbst hatte ihr Alter mit 37 angegeben, aber das war die einzige Lüge gewesen. Wahrheitsgemäß hatte sie erzählt, sie sei Violinistin und arbeite freiberuflich. Nach einer gescheiterten Ehe und einer aufgelösten Verlobung wohne sie alleine mit ihrer Katze. Mike39 war ein netter Jurist aus Seattle mit Fallschirmspringen als Hobby, zumindest gab er sich dafür aus. Dank langjähriger Erfahrung mit dem Internet hatte sie ein Gefühl für die Lügen entwickelt. Im Netz konnte sie die Worte der Männer deuten, bei wirklichen Begegnungen gab es jedoch immer so viele Eindrücke, die ihr die Sicht verstellten. Mike39 schien nett zu sein, jedenfalls hatte sie diesen Eindruck gewonnen. Sie hatten über Bücher und Filme gechattet und lustige und hintersinnige Kommentare eingeflochten. Diese Konversation war erstaunlich reibungslos gewesen, und Anna hatte schon erwogen, seine Kontaktdaten im Adressbuch ihres Computers zu speichern.
Allerdings nur bis zu dem Moment, als er fragte, ob sie große Brüste habe. Da hatte sie sich einfach ausgeloggt, ohne zu antworten. Nicht, dass sie keine großen Brüste gehabt hätte, aber sie wollte mit Mike39 nicht darüber sprechen. Ihre Brüste waren immer ein selbstverständlicher Teil ihrer Persönlichkeit gewesen, und sie trug immer noch gerne enge, tief ausgeschnittene Pullover. Sie hatte das Glück gehabt, ihre rechte Brust nicht wegoperieren lassen zu müssen. Aber seit ihr ein kleiner Knoten aus der Achselhöhle entfernt worden war, hatte sie immer das Bedürfnis, ihre Brüste vor der Umwelt zu schützen. Sie gehörten ihr, und sie hatte keine Lust, irgendjemandem etwas über sie anzuvertrauen.
Als Louise sie angerufen und ihr mitgeteilt hatte, dass Raoul vertretungsweise beim Furioso Quartett einspringen würde, verspürte sie den Impuls, das Gespräch so schnell wie möglich zu beenden, sich in eine Ecke zu setzen und nur zu zittern. Aber Louise redete betont munter weiter, und langsam hatte sich der schlimmste Schock gelegt. Als sie zehn Minuten später das Telefonat beendeten, war sie so aufgekratzt und wahnsinnig froh, als hätte sie im Lotto gewonnen. Zwanzig Minuten später kletterte sie schon fast die Wände hoch.
Die Rettung in der Zeit bis zum Aufnahmetermin war, dass sie sich in einer intensiven Arbeitsphase mit den Philharmonikern befand. Während einiger Konzerte würde sie sogar als Konzertmeisterin fungieren. Damit gelang es ihr, die wildesten Gedanken halbwegs in Schach zu halten. Aber am Tag, bevor sie nach Svalskär wollten, hatten sich die Erwartungen, die sie mit ihrer ersten Begegnung mit Raoul seit Jahren verband, bis ins Unerträgliche gesteigert. Auf der Skala ihrer Gefühle pendelte sie zwischen innerem Jubel und dem Gedanken, sich selbst die Finger in einer Tür zu quetschen, um nicht fahren zu müssen. Sie hatte eine Zwischenlösung gewählt, indem sie ausgegangen war und sich mit ein paar Orchesterkolleginnen sinnlos betrunken hatte.
Die Kneipenrunde mit Lina und Ingrid war eigentlich keine sonderlich geglückte Idee gewesen. Sie selbst hatte den anderen diesen Vorschlag mit fast hysterischer Begeisterung unterbreitet, dann aber versucht, einen Rückzieher zu machen. Bis in die frühen Morgenstunden an einer Bar zu stehen würde ihrem Aussehen, jetzt wo sie sich von ihrer besten Seite zeigen wollte,
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