Der Klang des Todes - Bartosch Edström, C: Klang des Todes - Furioso
Lange, absichtsvolle Striche auf der Innenseite, wie die ineinander übergehenden Auf- und Abstriche eines Bogens. Sie öffnete den Mund und stöhnte leise. Mitten in einem Satz wandte sich Louise ihr zu und fing gleichzeitig Raouls Blick auf. Stirnrunzelnd bemerkte sie, was unter dem Tisch geschah. Raoul sah Louise ungerührt an. Unbeirrt starrten sie sich an, während Caroline reglos zwischen ihnen saß. Um die Situation zu entschärfen, tätschelte Raoul Carolines Oberschenkel ein letztes Mal überdeutlich und lächelte Louise brüderlich an. Das Ganze war innerhalb weniger Sekunden vorüber. Weder Anna noch Helena schienen bemerkt zu haben, was sich unter dem Tisch abgespielt hatte.
Louise stand wortlos auf. Sie ging zum Herd und musste sich mit ihrer gesunden Hand abstützen, um nicht umzufallen. Der Schock lähmte sie. Was tat er da? Hatte sie wirklich richtig gesehen? Der Gedanke war so absurd, dass sie das, was sie gerade gesehen hatte, nicht begreifen konnte. Es konnte kein Zufall gewesen sein, dass seine Hand Carolines Oberschenkel entlanggeglitten war, sehr weit nach oben, und fast ihren Schritt berührt hätte. Wenn es ein Missverständnis gewesen wäre, dann hätte er sofort loslassen müssen, als sie ihn ertappt hatte. Er hätte sich erklären und entschuldigen müssen. Doch er hatte seine Hand liegen gelassen und das, was er tat, durch einen Blick bestätigt. Es war seine Absicht gewesen, dass sie es sah. Er hatte sie es wissen lassen wollen. Aber was? Was gab es zu wissen? Caroline hatte vollkommen reglos zwischen ihnen gesessen. Sie ertrug Raoul doch nicht! Sie hätte aufstehen, ihn ausschimpfen und ihm seinen Wein ins Gesicht schütten müssen. Das wäre ihre normale Reaktion gewesen. Stattdessen saß sie nur verschlossen da, schmollte und seufzte.
In all den Jahren hatte sie ihn immer verteidigt und alle Gerüchte als üble Nachrede und Neid abgetan. Konnte es wirklich wahr sein, was man über Raoul sagte? War er in der Tat ein richtiger Verführer, der überall Geliebte hatte? Aber doch wohl nicht Caroline! Von allen Frauen der Welt würde er es sich doch wohl nicht erlauben, mit Caroline zu flirten! Louise versuchte diesen Gedanken als lächerlich zu verwerfen, aber sie wagte nicht, sich umzudrehen, um sich zu vergewissern, dass ihre Fantasien jeder Grundlage entbehrten. Was, wenn sie sich umdrehte und sähe, dass Raoul Caroline erneut berührte und dass diese es einfach geschehen ließ? Oder, was noch schlimmer wäre, wenn sie ihn regelrecht ermunterte? Das Misstrauen ergriff von ihr Besitz und erweckte eine brodelnde Wut, die ihr Angst machte.
»Sollen wir die Vorspeise abräumen?«, fragte Anna und nahm die Teller vom Tisch. Raoul blieb sitzen. Caroline ebenfalls. Das Klappern des Porzellans schmerzte in Louises Ohren.
Raoul beugte sich zu Caroline vor und sagte mit halblauter Stimme: »Ich habe über ein paar Striche nachgedacht, die du im dritten Satz vielleicht ändern solltest. Wir können das nach dem Essen durchgehen.«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, erhob er sich. Wie zufällig glitt er an ihrem Gesicht vorbei und flüsterte in ihr Ohr: »Ich will dich haben, Caroline. Ich werde verrückt vor Sehnsucht nach dir.«
Er ging zum Herd, um den schweren Gusseisentopf zu holen, und fand sich Louise gegenüber wieder. Einen Augenblick lang sahen sie sich in die Augen, ohne den Blick abzuwenden.
Pochenden Herzens ließ sich Louise mit verbissener Miene auf ihren Stuhl sinken. Schweigend betrachtete sie Carolines regloses Profil. Dann fasste sie sich ein Herz und fragte: »Caro, ist mir irgendetwas entgangen?«
Caroline schüttelte nervös den Kopf. »W as sollte das sein?«
Louise lehnte sich zurück. »Ich weiß nicht, aber du könntest mich vielleicht aufklären.«
»Ich verstehe nicht, wovon du sprichst«, gab Caroline zurück.
Neue Teller waren gedeckt worden. Raoul servierte das Hühnergericht. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Louise und Caroline. Beide saßen reglos da und starrten betrübt auf ihre Teller. Anna und Helena beendeten ihre Unterhaltung, und Stille breitete sich am Tisch aus, während alle zu essen begannen.
Plötzlich hustete Raoul. Er warf seinen Löffel auf den Teller und stemmte sich mit beiden Händen gegen die Tischplatte.
»Hast du dich verschluckt?« Helena beugte sich zu ihm vor.
»V ielleicht doch zu viel Chili?«, fragte Anna und schaute über den Tisch. Raoul rang mit aufgerissenen Augen nach Luft.
»So furchtbar schmeckt es doch wohl nicht?«
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