Der Klang des Verderbens
geht es Daniels?«, fragte er. Obwohl er wahrscheinlich schriftliche Berichte aus dem Krankenhaus bekam, wollte er ihre persönliche Meinung hören.
»Die Ärzte sagen, es geht ihm besser. Mit der Reha ist er noch nicht fertig, aber er ist ganz guter Dinge. Je mehr er macht, desto zuversichtlicher wird er. Wahrscheinlich lassen sie ihn im neuen Jahr wieder anfangen.«
Ambrose lächelte kurz, wie sie gehofft hatte, und dann, als ihm auffiel, dass sie immer noch stand, deutete er auf einen der Stühle. Ronnie ließ sich auf der Vorderkante nieder und fragte sich, was dem Mann so aufs Gemüt geschlagen hatte. »Alles in Ordnung, Sir?«
Er seufzte hörbar, griff in eine Schublade und holte eine große Packung Magentabletten hervor. Vier Stück ließ er auf seinen Handteller purzeln, warf sie sich in den Mund, kaute und spülte sie mit einem Schluck Kaffee hinunter. »Sie kennen doch die PFA ?«, fragte er schließlich.
Sie verdrehte die Augen und wagte einen Scherz. »Sie meinen bestimmt die Patrioten für ein Friedliches Amerika und nicht eine unserer Polizeiführungsakademien?«
»Genau die.«
»Sind mir ein Begriff.«
»Sie haben eine Genehmigung für eine Demonstration vor dem Gebäude des Supreme Court am 23. beantragt – zwei Tage vor Weihnachten – und auch bekommen.«
Ihr klappte die Kinnlade herunter.
»Wie bitte?«
»Sie haben schon richtig verstanden.«
»Das ist ein Scherz, oder?«
»Schön wär’s.«
»Ich dachte, so was gibt’s bei uns nicht mehr!«
Es war lange her, dass irgendeine Form von öffentlicher Kundgebung in der Landeshauptstadt abgehalten worden war. Tatsächlich konnte sie sich gar nicht erinnern, wann das letzte Mal eine größere, nicht von der Regierung organisierte Zusammenkunft hier stattgefunden hatte. Die gesamte Stadt war zu einer regelrechten Hochsicherheitszone mutiert, in der das Recht auf freie Meinungsäußerung stark eingeschränkt worden war, seit ein paar Wahnsinnige, die den »American Way of Life« nicht mochten, diese zur Hälfte in die Luft geblasen hatten.
»Dann sind wir schon zu zweit.«
»Und wie groß soll diese Demo werden?«
Ambrose griff wieder nach seinen Tabletten, als schlüge ihm allein schon der Gedanke daran auf den Magen.
»Vielleicht will ich’s doch nicht wissen«, murmelte Ronnie.
Er sagte es ihr trotzdem. »Sie nennen es den Marsch der Million für den Frieden.«
Sie hustete in die vorgehaltene Hand. Sie musste sich verhört haben. »Eine Million Menschen?!«
Er zuckte schicksalsergeben mit den Schultern. »So viele Menschen wird der gute Reverend Tippett niemals auftreiben. Die Leute haben immer noch zu viel Angst. Aber ein Zehntel davon kriegt er bestimmt zusammen.«
»Na, da geht’s mir ja gleich viel besser.«
Einhunderttausend Menschen. Langsam schüttelte sie den Kopf, während sie sich das ausmalte. Der Aufwand für die große, straff durchorganisierte Umwidmung der National Mall, äh, des Patriot Square am 4. Juli in diesem Sommer war gigantisch gewesen. Und da hatte es sich lediglich um fünfundfünfzigtausend Besucher gehandelt, von denen jeder Einzelne im Vorhinein eine Eintrittskarte hatte kaufen und durch die Sicherheitskontrollpunkte gehen müssen. Und
trotzdem
war auf der Baustelle des Weißen Hauses eine Frau zerstückelt worden.
»Die Richter sind an diesem Tag natürlich alle weit weg. Kein Regierungsbeamter wird sich in der Stadt aufhalten, selbst wenn nicht gerade Weihnachten vor der Tür stünde.«
»Dem Himmel sei gedankt«, antwortete sie. Wie jeder US -Amerikaner wusste sie, dass Washington nicht mehr als tatsächlicher Regierungssitz genutzt wurde. Normalerweise befand sich der Präsident in Camp David oder an einem anderen gut geschützten Ort. Der Kongress tagte in einem unterirdischen Bunker, und der Supreme Court rotierte durch die verschiedenen Bundesstaaten, wie die Wanderrichter im Wilden Westen. Natürlich tauchten sie regelmäßig hier auf, aber niemals alle gleichzeitig – dafür hatte der Verlust nahezu der gesamten politischen Elite des Landes am 20. Oktober 2017 gesorgt. All die Gebäude und Monumente, die in der Stadt wieder aufgebaut wurden, wurden fast ausschließlich für Fototermine genutzt – und natürlich zu historischen und touristischen Zwecken. Und sie waren auch so etwas wie ein Stinkefinger in Richtung der Terroristen, um zu beweisen, dass sich das Land nicht unterkriegen ließ. Doch selbst ohne all die Amtsträger in der Stadt blieb Washington ein starkes Symbol und wurde
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