Der Klang des Verderbens
Schließlich hatte der Kerl auf dem Stuhl ihn ohnehin schon gesehen … zumindest wenn er noch lebte. Das schien jedoch unmöglich.
Ihr anonymer Freund setzte sich wieder in Bewegung. Seine langsame, bedachte Drehung verriet ihr, dass er ihr Zeit zum Begreifen gab, damit sie jede einzelne Sekunde mit ihm gemeinsam erlebte. Schließlich kam ein flacher Gegenstand an der Wand ins Bild.
»Ein
Spiegel
?«, stieß Ronnie hervor.
So
einfach konnte er es ihr doch nicht machen!
Natürlich nicht. Ihre Hoffnungen wurden rasch enttäuscht. Er wollte sie wieder nur ärgern. Ja, ein Spiegel hing an der Wand über einem Spülbecken, aber er hatte nicht nur eine Maske aufgesetzt, sondern stand auch ein gutes Stück vom Spiegel entfernt. Außerdem war die Oberfläche mit einer zähen Flüssigkeit beschmiert, als hätte ein Kind sich mit Fingerfarben ausgetobt. Vorausgesetzt, dieses Kind war ein Vampir im Kleinformat, der gerne mit seinem Essen spielte.
Alles, was sich darin spiegelte, war verzerrt, auch das Abbild des Mannes. Sie konnte lediglich die Umrisse einer Person ausmachen – die dunkle Kleidung – und einen Kopf, der in einer dieser pornomäßigen Gummimasken steckte, die man auf BDSM - oder Fetisch-Websites kaufen konnte.
Wieder hob er die rechte Hand. Winkte ihr noch einmal zu.
Das Bild wurde dunkel, aber nicht weil der Mann sein Gesicht bedeckt oder die Augen geschlossen hätte. Ronnie blickte auf einen leeren Computerbildschirm. Sie machte sich eine kurze Notiz von den Details, die sie an den Rändern erhascht hatte – die Farbe, die kleinen Kratzer –, dann erstarrte sie, als Wörter auf dem Bildschirm erschienen.
Er tippte eine Nachricht, Buchstabe für Buchstabe.
Eine Nachricht an
sie
.
Guten Morgen, Detective Sloan.
Wie Sie sich denken können, hätte ich das hier auch erst an die Presse schicken können. Aber die hätten nicht verstanden, wie diese Aufnahmen zustande gekommen sind. Sie vermutlich schon.
Sind Sie schlau genug, um herauszukriegen, wer ich bin? Warum ich das tue? Wer als Nächstes dran ist?
Und was nötig ist, um mich aufzuhalten?
Das werde ich mit Interesse verfolgen.
Schönen Tag noch.
Ted
Eine Viertelstunde später, nachdem Ronnie sich die gesamte Bildfolge noch einmal angeschaut und alles notiert hatte, was ihr aufgefallen war, klappte sie den Laptop zu und nahm ihn mit zum Büro ihres Chefs. Durch das Fenster in der Tür erspähte sie Lieutenant Ambrose an seinem Schreibtisch. Den kahler werdenden Kopf hatte er aufgestützt, während er jemandem am Telefon zuhörte, der ihm offensichtlich eine unliebsame Mitteilung machte.
Um den armen Mann nicht zu stören, lehnte Ronnie sich gegen den unbesetzten Tisch vor dem Büro, froh, dass seine Assistentin bereits Feierabend gemacht hatte. Sie mochte die ältere Dame, ziemlich gern sogar, vor allem weil sie Ambrose so bemutterte. Aber momentan hatte Ronnie keine Lust auf Smalltalk. Ihr Kopf war noch so voll von dem, was sie gerade gesehen hatte, und ihre Gedanken überschlugen sich, während sie im Geiste die Bilder noch einmal abspulte. Ihren instinktiven Ekel hatte sie bereits überwunden, hatte dem Opfer, das so entsetzlich misshandelt worden war, so viel Mitgefühl zukommen lassen, wie die Zeit zuließ, und sich dann umgehend an die Arbeit gemacht.
Fragen über Fragen.
Heißt er wirklich Ted? Was will er? Wer war das Opfer? Warum macht er das? Wer ist das nächste Opfer? Warum hat er ausgerechnet mich angeschrieben?
Die Antworten würden nicht leicht zu finden sein. Es gab nur einen Ort, an dem sie beginnen konnte. Und sie musste ihren Chef mit ins Boot holen, um die Sache ins Rollen zu bringen.
Ambrose legte auf, lehnte sich zurück und fuhr sich über die Augen. Ronnie klopfte an und streckte den Kopf durch die Tür. »Haben Sie kurz Zeit?«
Er nickte, lächelte erschöpft und winkte sie herein. »Detective Sloan.«
»Danke, Sir.«
Sie musterte ihn rasch. Ihr fiel auf, dass sein Haar dünner und grauer schien als je zuvor, und sein Gesicht wirkte ausgezehrt. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Akten und Dokumente – der Großteil davon war auch ins EDV -System eingespeist, aber Ambrose war ein bisschen altmodisch. Wie immer durchrollte sie eine Welle der Zuneigung für diesen Mann, der früher ein Untergebener und guter Freund ihres Vaters gewesen war. Vermutlich hatte der Lieutenant auch deswegen eine Schwäche für sie … und hatte ihr einiges durchgehen lassen, was er bei anderen wohl nicht getan hätte.
»Wie
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