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Der Klang des Verderbens

Der Klang des Verderbens

Titel: Der Klang des Verderbens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leslie Parrish
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bemerkte einen breiten Streifen heller Haut mit dunklen, drahtigen Haaren darauf.
    Ein hellhäutiger Mann.
    Das war zumindest ihre Vermutung. Denn wie ihr plötzlich klar wurde, waren all diese Bilder schwarz-weiß. Nicht in Farbe. Wenn sie nicht bereits herausbekommen hätte, dass er seine eigene Aufzeichnung aufzeichnete, stünde sie schon wieder vor einem Rätsel. Die OEP -Kamera nahm in Farbe auf, das ganze Spektrum, genau so, wie der Teilnehmer seine Umwelt sah. Also hatte er seine Back-ups auf einem Schwarz-Weiß-Bildschirm oder -Fernseher abgespielt und das wiederum aufgenommen. Ehrlich gesagt wusste sie nicht einmal, ob die Dinger überhaupt noch hergestellt wurden, aber wahrscheinlich konnte man einige Bildschirme einfach umstellen.
    Die Frage war, hatte er das absichtlich getan? Das wäre ja merkwürdig. Dachte er, sie könnten über die Farben seiner Welt etwas über ihn herausfinden? Denn wenn sie nicht völlig danebenlag, dann war seine Welt ganz schön durchgeknallt. Daran schien sich auch in Schwarz-Weiß nichts zu ändern.
    Der übrige Arm war bis zum Ellenbogen hoch mit einem dunkelfarbigen Ärmel bedeckt. Er schien von einer Jacke zu stammen. Schwarz oder vielleicht dunkelblau.
    Kein Jeansstoff, kein Leder. Glatt und glänzend – Nylon.
    Der Arm hob sich, bis Ronnie den gesamten Handrücken sehen konnte, der im Abstand von ungefähr fünfzehn Zentimetern vor das Gesicht gehalten wurde. Langsam – gaaanz langsam – drehte sich der Arm, sodass sie auf den Handteller starrte.
    Dann klappten die gummiüberzogenen Finger leicht nach unten. Einmal. Zweimal.
    Hallo.
    »Ist ja gut.« Er winkte ihr zu, um sich ihrer gesamten Aufmerksamkeit zu versichern. »Schon kapiert, nun mach weiter.«
    Als hätte er sie gehört, verschwand die Hand, und endlich driftete der Blick von der Wand ab. Allerdings nicht wie bei einem Film, wo Dutzende Bilder pro Sekunde angezeigt wurden. Wenn die Wiedergabe nicht vorgespult wurde, was hier nicht der Fall war, glich das Ergebnis eher einem frühen Zeichentrickfilm oder einem altmodischen Kinderbuch, das eine kleine Geschichte erzählte, wenn man die Seiten ganz rasch umblätterte. Das menschliche Auge war viel schneller als das OEP -Gerät, und es dauerte immer einen Moment, bis man sich daran gewöhnt hatte, die Information in diesen ruckartigen Bildfolgen aufzunehmen, die nicht wirklich in Echtzeit abgespielt wurden.
    Sie sah zu, wie der Proband sich in dem Raum mit den Betonwänden in Sekundenschritten um 180 Grad drehte. Bis sie nach Luft schnappte, als sie sah, was er ihr zeigen wollte.
    Und das war mitnichten ein schwarz gekleideter Mörder mit einem Messer, wie sie ihn bei den Todesfällen im Sommer gesehen hatte. Nein, diese Testperson war nicht das Opfer. Ob Zeuge oder Täter, konnte Ronnie noch nicht entscheiden, aber sie vermutete Letzteres. Sein Gewinke war fast keck gewesen. Außerdem schien er aufrecht zu stehen und sich frei bewegen zu können.
    Im Gegensatz zu der mitleiderregenden Gestalt, die in der Mitte dieses weiß getünchten Raums an einen Stuhl gefesselt war.
    »Großer Gott«, murmelte sie, völlig schockiert von dem Leid, das diesem Mann angetan worden war.
    Er war übel zugerichtet, blutig, geschunden. Gewebefetzen und dünne Adern hingen ihm aus einer leeren Augenhöhle auf die Wange; das Auge, mit dem sie einmal verbunden gewesen waren, war nicht zu sehen. Das Gesicht war einmal durch den Fleischwolf gedreht worden, weiße Knochen und abgebrochene Zähne blitzten hier und da durch die blutige, zerstörte Haut. Nur weil die Farben fehlten, hieß das nicht, dass Ronnie Blut nicht von offenem Fleisch oder von Haut unterscheiden konnte.
    Die paar Haarsträhnen, die ihm nicht blutig am Kopf klebten, schienen dunkel zu sein und hingen neben seinem eingeschlagenen Kinn herunter. Sie wusste nicht, ob ihnen das bei der Identifikation helfen würde, denn anhand des Gesichts würden sie nicht weit kommen.
    Sie versuchte, seine Größe mithilfe des Stuhls zu schätzen. Er schien groß zu sein – mindestens einen Meter achtzig. Sie ließ den Blick weiterwandern und bemerkte noch mehr Einzelheiten: ein breiter Hals, breite Schultern, eine kräftige Brust. Das hier war kein schmaler, hilfloser Schwächling. Der hatte sich bestimmt gewehrt. Also musste der Angreifer – womöglich der Mann, durch dessen Augen sie diesen Tatort begutachtete? – ziemlich stark sein. Sie dachte wieder an diese dicken, behandschuhten Finger, die breite, kräftige Hand, und fragte

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