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Der Klang des Verderbens

Der Klang des Verderbens

Titel: Der Klang des Verderbens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leslie Parrish
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sich, ob sie dem Mann gehörten, der den armen Kerl so grausam bestraft hatte.
    Dessen Handgelenke und Arme waren von riesigen Blasen übersät, und es fehlten ganze Hautstücke. An manchen Stellen sah es aus, als wäre das Fleisch weggeschmolzen worden. Rußig schwarze Streifen auf den metallenen Armlehnen wiesen auf irgendeine Art von Flammen hin.
    Sie drückte auf Pause und griff nach Stift und Zettel. Zweifelsohne würde sie sich dieses Video wieder und wieder anschauen müssen und sich beim nächsten Mal genauere Notizen machen. Doch bei diesem ersten Mal wollte sie ihren Gedanken freien Lauf lassen. Manchmal konnte auch ein flüchtiger Eindruck etwas Wichtiges zutage fördern.
    Der schwer verletzte Mann – höchstwahrscheinlich war er sogar bereits tot, jedenfalls rührte er sich nicht – trug dicke, schwere Ketten, vermutlich aus massivem Gold und sündhaft teuer. Auf der einen Seite seines Halses sah man eine besonders enge Kette, die auf der anderen Seite allerdings in einer aufgeschlitzten Spalte von geschwollenem Fleisch verschwand.
    Ronnie betrachtete kurz die tattooartigen Zeichnungen auf beiden Schultern – Zacken, womöglich von einem Stern? Auf dem rechten Oberarm saß ein seltsames Symbol, das sie intuitiv für das Logo einer Gang hielt. Auf dem linken prangte ein blutendes Kreuz. Der Rest des Armes war untätowiert. Doch den anderen bedeckte ein Full Sleeve Tattoo unter dem Ganglogo, mit lauter zerklüfteten Spiralen und Formen. Erst einen Moment später begriff Ronnie, dass manche Streifen Blutrinnsale waren und nicht zu dem verworrenen Kunstwerk gehörten.
    Ihr Blick glitt weiter nach unten. Blutige Brust. Sichtbare, doch wahrscheinlich nicht sonderlich tiefe Schnitte. Mindestens vier Stück. Vermutlich eher zum Amüsement des Peinigers gedacht, denn um schwere Verletzungen zuzufügen.
    Vom dichten Brusthaar tropfte Blut; eine Brustwarze schien zu fehlen. Über den Bauch verlief eine klaffende Wunde, die oben rechts ansetzte und nach links unten bis kurz über der Hüfte verlief. Ein Stück Gedärm, das wohl während des Schnitts herausgedrungen war, lugte hervor. Wahrscheinlicher aber, räumte sie ein, war es hinterher herausgezogen worden. Wenn das der Fall war, hoffte sie ernstlich, dass der Kerl bei diesem Teil der sadistischen Folter nicht bei Bewusstsein gewesen war.
    Er war nackt, aber zwischen den Beinen – weit gespreizt und an den Knöcheln gefesselt – hatte sich eine riesige Blutlache gebildet, die die Vermutung nahelegte, dass er kastriert worden war. Die Beine waren stämmig, behaart und muskulös. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, dass jemand, der diesem Mann körperlich nicht gewachsen war, ihn überwältigt und so verstümmelt haben sollte – es sei denn, er wäre betäubt oder völlig überrumpelt worden.
    Der Mann, durch dessen Augen sie sah, wandte sich langsam von der grausamen Szenerie ab. Ein Blick hinunter auf den Betonfußboden neben dem Stuhl zeigte eine Brechstange, die mit Blut, Haar und Gewebefetzen verschmiert war. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf seine eigene Person. Er betrachtete seine Schuhe – feste Arbeitsstiefel. Und seine schlichte Kleidung – dunkle Jacke, eine Jeans. Seltsam, den Körper eines Mannes durch dessen eigene Augen zu betrachteten.
    Sein Blick wanderte zu seiner linken Hand, ebenfalls behandschuht. Sie zierte ein Schlagring, der mit Blut und Haut verkrustet war, wahrscheinlich auch mit Splittern von Knochen und Zähnen.
    Damit hatte er die Tat gerade gestanden. Er wollte absolut sicher sein, dass sie seine Botschaft verstand: Dieses abscheuliche Tableau war sein Werk.
    »Und wieso gehst du dann nicht einfach zur nächsten Polizeiwache und stellst dich?«, murmelte sie. Warum spielten diese Psychos immer so gerne kranke Spielchen? Angefangen bei Jack the Ripper, genossen sie ganz offensichtlich ihre kryptischen Botschaften, grausamen Geschenke und wütenden Hasstiraden. Konnte nicht der Abwechslung halber einmal einer von ihnen einfach begreifen, dass er einen verdammten Sprung in der Schüssel hatte, und sich – und seine Umwelt ebenfalls – von seinem Elend erlösen?
    Etwas Dunkles kam ins Bild – etwas Glänzendes, Festes? – und schob sich vor die Augen. Einen Moment lang nahm es ihr die Sicht. Dann wurde es zurechtgerückt; nur in den Augenwinkeln blieben ganz schwache Halbkreise zurück, und sie begriff, dass er gerade irgendeine Maske aufgesetzt hatte.
    »Vor wem versteckst du dich?«, fragte sie laut.

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