Der Klang des Verderbens
kleinen Haufen aus Fleisch bemerkte – Fingerspitzen, Geschlechtsorgane und etwas, das wie eine Zunge aussah, alles sorgfältig auf dem Fußboden angehäuft. Dann betrachtete er hoch konzentriert den Spiegel, als der schemenhafte Mann, dessen Erinnerungen er gerade teilte, hineinschaute.
»Wenn wir die Entfernung des Spiegels zur Decke in dem realen Raum messen, können wir die genaue Größe dieses Kerls errechnen«, sagte er. Wenigstens das würde das Spiegelbild mit Sicherheit hergeben. Ihr schlauer Täter hatte bereits auf seine Schuhe geblickt, die nach ganz normalen flachen Arbeitsstiefeln aussahen – kein Keilabsatz, mit denen er seine Größe hätte verfälschen können. Das war immerhin etwas.
Er kam zu den letzten Augenblicken des Videos, in denen die Nachricht des Täters Wort für Wort vor ihm auftauchte. Ein merkwürdiges Gefühl, zuzusehen, wie die Buchstaben in der Luft Gestalt annahmen – wie in einem Science-Fiction-Film. Das hier war nicht das, was einem das OEP -Gerät üblicherweise auftischte, und er konnte sich auf jedes Wort nacheinander konzentrieren. Bis hin zur Signatur.
»Hm«, machte er.
Ronnie stand von ihrem Stuhl auf und stellte sich genau vor die Matte. Durch die nebulöse Wand konnte er ihre Gestalt erkennen. »Was denn?«
»Ist bloß komisch … er zögert beim Namen.«
»Tja, wir haben uns ja schon gedacht, dass einer der Namen erfunden ist – oder wahrscheinlich beide.«
»Ja, natürlich. Aber den übrigen Text hat er ganz ruhig und gleichmäßig getippt. Bei diesem Wort allerdings … hält er nach jedem Buchstaben inne. D. Pause. A. Pause. Und so weiter.«
Sie zögerte, dann begriff sie, was er meinte. »Du meinst, er versucht uns zu sagen, dass der Name wichtig ist? Dass es sich nicht bloß um ein Allerweltspseudonym handelt?«
»Genau. Der Name hat etwas zu bedeuten. Das war keine zufällige Wahl.«
»Gucken wir mal, ob er es in dem anderen Video genauso macht.«
Jeremy nickte. Sein Martyrium war erst halb vorbei. Auf ihn wartete noch ein zweites Video – das ihr Täter an Ronnie geschickt hatte. Sie wussten nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, ob sie sich abgesehen von der Nachricht am Ende irgendwie unterschieden. Dennoch, wenn ihr Mörder clever war – was sie annahmen –, und wenn er gerne Spielchen spielte – was sie bereits wussten –, dann hatte er bestimmt irgendwo in den Bildern ein Osterei versteckt. Das würde ganz einfach zu ihm passen, und wenn er nur sehen wollte, wie gut sie aufpassten.
»Ich glaube, ich bin bereit für Runde zwei«, sagte er.
»Alles klar, einen Augenblick«, antwortete Dr. Cavanaugh.
»Geht’s dir gut? Soll ich dich ablösen?«, fragte Ronnie.
»Alles in Ordnung. Außerdem weißt du genauso gut wie ich, dass das nicht geht. Ich muss nach dem Unterschied suchen. Ich weiß, dass es einen gibt.«
»Glaubst du wirklich?«
»Oh ja, garantiert. Das sähe unserem Freund gar nicht ähnlich, wenn er nicht irgendein Schmankerl eingebaut hätte, um uns zu verspotten oder zu provozieren.«
Er behielt recht. Es passierte erst kurz vorm Ende. Vielleicht weil es so lange dauerte – weil seine Spannung sich mit jedem Bild steigerte, bis er auf der Suche nach irgendeinem kleinen, unbedeutenden Unterschied beinahe die Geduld verlor –, sprang es ihm schließlich fast ins Gesicht, als er es fand.
»Stopp!«, befahl er.
Die Bilder um ihn herum erstarrten.
»Noch mal drei oder vier Einzelbilder zurück.«
Die nebulöse Welt um ihn herum bewegte sich rückwärts, bis er wieder eine perfekte Sicht auf die Schrauben hatte, die den Stuhl festhielten, die Waden des Opfers … und die kleine, blutige Ansammlung von Fleischstücken, die ungefähr fünfzehn Zentimeter von den Füßen des Mannes entfernt lag.
»Das ist es«, sagte er und versuchte zu verstehen, was er da sah.
Wo vorhin noch eine kranke kleine Opfergabe angehäufter Körperteile gelegen hatte – Fingerspitzen, Zunge, Geschlechtsteile –, sah das Arrangement jetzt etwas anders aus. Nur auf ein paar Einzelbildern, und der Unterschied war so minimal, dass es nie aufgefallen wäre, wenn man nicht gerade danach suchte. Anscheinend hatte ihr schlauer Freund diese Änderung vorgenommen, daraufgeschaut, alles wieder zurückgelegt und die Einzelbilder in die Gesamterzählung eingefügt.
»Wo denn?«, fragte Ronnie, die offenbar an ihrem eigenen Bildschirm zu entdecken versuchte, was er meinte.
»Guck mal unten rechts.«
»Oh, igitt.«
»Kannst du da irgendwas
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