Der Klavierstimmer
dem es gelungen war, mit einem Satz auf den Lippen, der Papas Satz täuschend ähnlich sah, das genaue Gegenteil von Papa zu leben, war so überwältigend, daß ich dasselbe auf der Stelle auch erreichen wollte, um mich damit auf einen Schlag von Papas Partituren zu befreien. Nicht abhängig sein von Erfolg und Applaus! Überhaupt nicht abhängig sein von Anerkennung! Diese Sehnsucht, die mich jeden Nachmittag und jeden freien Tag mit der Kamera unterwegs sein ließ, bis das letzte winterliche Licht verschwunden war, war so mächtig, daß ich die einzigartige Lösung, welche die Holländerin für sich gefunden hatte, als ein Rezept mißverstand. Und natürlich verfehlte ich gerade dadurch, was ich suchte.
Die Balken der Wohnung waren wieder weiß. Ich fühlte mich ernüchtert und vollkommen leer. Es war ein unscheinbarer Zufall, der mich zurück zum Fotografieren brachte und schließlich zum Film. Ich frühstückte an einem Sonntag in einem Bistro, an einem Tisch draußen, als ein schlecht gekleideter, nach vorne gebeugter Mann vorbeihetzte. Wäre es an einem Werktag geschehen, so hätte ich das Gehetzte auf Arbeit und Beruf geschoben und gleich wieder vergessen. An jenem stillen Sonntagmorgen jedoch hatte man das Gefühl, daß es private Sorgen sein mußten, die ihn antrieben, und deshalb beschäftigte mich der Mann noch eine Weile. Insbesondere ging mir die Tasche nicht aus dem Kopf, die er so krampfhaft festgehalten hatte, daß die Fingerknöchel weiß waren. Zwei Stunden später sah ich ihn wieder, diesmal in einem kleinen Park, wo er auf einer Bank saß und sich eine Zigarette mit der Glut der vorherigen anzündete. Die Tasche lag neben ihm auf der Bank, und darauf lag ein Blumenstrauß. Er rauchte hastig und berührte alle paar Sekunden die Tasche, wie um sich zu vergewissern, daß sie noch da war. Zum drittenmal an jenem Tag sah ich ihn in der Métro. Die Tasche und den Blumenstrauß hatte er nicht mehr bei sich. Er wirkte ein bißchen ruhiger, doch jetzt verblüffte mich, daß er auf einmal einen zitronengelben Schal trug, der zu seiner ganzen Erscheinung in gar keiner Weise passen wollte. Ich stieg mit ihm zusammen aus und folgte ihm, bis er in einem schäbigen Haus verschwand.
Das war alles, und ich verstand nicht recht, warum mich dieser Zufall eines dreimaligen Zusammentreffens bis in den Abend hinein beschäftigte. Erst am nächsten Tag, als ich im Reisebüro Pause hatte, kam ich drauf: Es hatte sich aus der Begebenheit die Idee gebildet, durch zeitlich versetzte Bilder über einen Menschen eine Geschichte zu erzählen. Die drei Begegnungen waren wie Schnappschüsse gewesen, zu denen man nun Geschichten erfinden konnte. Was war mit der Tasche und den Blumen geschehen, und wie war er plötzlich zu dem unpassenden gelben Schal gekommen?
Ich begann, Leuten nachzugehen und sie an verschiedenen Stellen ihres Wegs zu fotografieren. Anfangs blieb ich draußen, wenn sie ein Gebäude betraten, später lernte ich, sie auch drinnen unauffällig zu fotografieren. Wenn die Bilder entwickelt waren, mischte ich sie immer neu wie ein Kartenspiel und probierte Geschichten zu den verschiedenen Sequenzen aus. Die weißen Balken der Wohnung verschwanden wieder hinter Bildern, und dieses Mal waren es wirklich meine eigenen Bilder.
Es dauerte noch fast zwei Jahre, bis daraus ein Beruf wurde. Und wieder entwickelten sich die Dinge mit einer Art schläfriger Zufälligkeit. Ich hatte für eine junge Frau einen Flug nach Marseille zu buchen und erfuhr dabei, daß sie zu einer Tagung über Filmschnitt reiste. Der Computer streikte wieder einmal, und während wir warteten, erzählte sie von ihrer Tätigkeit als Cutterin. Als sie gegangen war, buchte ich für meinen freien Tag auch einen Flug nach Marseille: morgens hin, abends zurück. In den Sitzungen der Tagung saß ich ganz hinten, als Zaungast. Ich kam ganz aufgeregt nach Paris zurück, und als ich am folgenden Wochenende Madame Auteuil besuchte, die auch über die Anfangszeit hinaus wie eine Mutter zu mir war, erzählte ich von Marseille. Als Witwe eines Journalisten kennt sie noch heute Gott und die Welt. Durch sie kam ich zu einem Praktikum in Madame Bekkouches Studio.
Was ist geschehen, daß mir all das auf einmal wie eine Sackgasse vorkommt? Die vielen Bücherkisten mit dem ganzen Gewicht der Vergangenheit, sie lassen die Filmbilder an den Wänden, die über die Jahre mehrmals gewechselt haben, papieren erscheinen. Als seien die Geschichten, zu denen sie gehören,
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