Der Klavierstimmer
von stützenden Balken, die in den unmöglichsten Winkeln zueinander stehen. Ich habe sie alle weiß gestrichen, und dasselbe habe ich mit den Dielen des Fußbodens gemacht. Ein bißchen düster ist es an grauen Tagen immer noch; aber inzwischen habe ich so viele Lampen angebracht, daß jeder Winkel ausgeleuchtet werden kann. Es sind nur wenige Möbel, die ich mir gekauft habe, und fast ein Jahr lang bestand das Wohnen darin, die weiße Leere des großen Raums zu betrachten und zu verfolgen, wie sich an klaren Tagen das Muster des Sonnenlichts, das durch die Luken fällt, auf den Brettern verändert. Immer noch hatte ich das Gefühl, ich müsse mir das Leben ganz neu erfinden.
Es war ein Wintertag, an dem die Schneeflocken auf dem Glas der Dachluken schmolzen, da las ich in der Zeitung einen Bericht über eine holländische Fotografin. Die eingestreuten Fotos fielen dadurch auf, daß ihre Sujets von verblüffender Unauffälligkeit waren: die Kurve einer verregneten Straße, eine vereiste Treppenstufe, eine zerdrückte Cola-Dose, ein verrostetes Hinweisschild. Ich war seltsam aufgeregt, als ich die Bilder sah; ich wußte sofort, sie würden wichtig für mich werden, ohne daß ich hätte sagen können warum. Gespannt las ich den Bericht, in dem von einer schlechten Schülerin erzählt wurde, die wegen Faulheit und Aufsässigkeit die Lehre bei einem Fotografen verpatzte, straffällig wurde und nun als Kellnerin in einem Fast-food-Lokal arbeitete. Der Autor des Berichts, ein Journalist, entdeckte ihre Aufnahmen, als ihn ein Bekannter auf eine Party mitnahm, die sie gab. Die Wände ihrer Wohnung waren tapeziert mit diesen unscheinbaren Bildern, am Ende des Berichts gab es ein Foto dazu. Sie selbst war auch abgebildet: ein schmales, ungewöhnlich flaches Gesicht mit hellen Augen und zu großem Mund, die kurzen Haare abstehend und wirr, als hätte sie sie einfach mit der Schere gestutzt, ohne Spiegel. Doch das, woran ich mich am besten erinnere, war ihr spöttisches Lächeln, frei von jeder Verbitterung. Unter dem Bild stand ein Ausspruch, den sie über ihre Fotografien getan hatte: Für das, wofür ich mich interessiere, interessiert sich keiner.
Du wirst verstehen, warum mich der Satz elektrisierte: Er lag in der Nähe von Papas Satz, der in Blei gegossen zu sein schien und so viele Jahre auf uns lastete: Keiner will meine Musik hören. Doch die Nähe - entdeckte ich bald - war nur scheinbar. Ich schnitt das Bild aus und pinnte es an einen Balken. Und dann begann ich, den Spott in diesem Gesicht mit dem spöttischen Ausdruck von Papa zu vergleichen, dem Spott, den er um seine Enttäuschung und Verletzlichkeit herum aufgebaut hatte. Der Vergleich beschäftigte mich bis in die Träume hinein, in denen ich auch dir den Unterschied zu erklären versuchte. Das war es, sagte ich dir: Die Frau auf dem Foto war zwar auch einmal überrascht gewesen, daß die anderen ihre Bilder nichtssagend und langweilig fanden. Am Anfang mochte es sie auch verletzt haben. Doch dann, so sagte ihr Lächeln, hatte sie es gut gefunden und befreiend, mit ihrer Sicht der Dinge allein dazustehen. Sie war stolz darauf, etwas ihr ganz Eigenes zu besitzen, mit dem sie ohne allen Groll allein sein konnte. Nie würde sie ihre Bilder für einen Wettbewerb einschicken, und daß davon nun in der Zeitung die Rede war, amüsierte sie höchstens, ohne in ihrem Inneren zersetzende Spuren zu hinterlassen, die sie veranlassen könnten, in Zukunft für ein Publikum zu fotografieren.
Für einige Zeit wurde sie mir zur Heldin, der ich es gleichzutun versuchte. Ich kaufte eine Kamera, und innerhalb kurzer Zeit verschwand alles Weiß der Dachbalken hinter Fotografien, die denen der Holländerin nachempfunden waren. Auch ihr Portrait blieb hängen. Es war nun ganz anders, nach der Arbeit nach Hause zu kommen: Ich kam zu etwas Eigenem, von dem es schien, als könne es der Anfang eines neuen Lebens sein.
Es dauerte viele Wochen - die Wohnung war inzwischen vollständig mit Fotos tapeziert -, bis ich mir eingestand, daß das alles nicht stimmte; daß ich mir etwas vorgemacht hatte. Das Ganze war Nachahmung, und außerdem war es krasse Selbsttäuschung zu glauben, die nachgemachte Unauffälligkeit, ja Abseitigkeit in den Sujets der Bilder würde - wie durch Magie - auch in mir die innere Unabhängigkeit meines Vorbilds hervorbringen. Ich schäme mich ein bißchen, daß ich für diese simple Einsicht so lange gebraucht habe. Es muß so gewesen sein: Von jemandem zu lesen,
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