Der Klavierstimmer
444 Hertz.
Die Musiker kamen herein und setzten sich, der Konzertmeister ging zum Flügel und schlug das A an.
‹Unmöglich!› Der erste Oboist war aufgesprungen und gestikulierte heftig. ‹Ganz ausgeschlossen! So hoch können wir nicht spielen!›
Der Konzertmeister schlug den Ton noch ein paarmal an, konzentrierte sich mit geschlossenen Augen und sagte dann: ‹In der Tat.› Dann kam er hinter die Bühne, sprach mit dem wartenden Nestjev und dem Dirigenten, und schließlich holten sie mich dazu.
‹Wie konnte das passieren?› schnauzte mich der Dirigent an.
‹Das müssen Sie nicht mich fragen›, sagte ich und sah Nestjev direkt in die Augen, ‹sondern diesen Herrn hier. Er hat mich nach der Probe angewiesen, auf 444 Hertz zu stimmen. Damit man jeden einzelnen seiner wundervollen Töne auch wirklich hört.›
‹Das ist eine Lüge›, sagte Nestjev. Meinem Blick konnte er nicht standhalten.
‹Sie haben eine halbe Stunde, um das geradezubiegen›, sagte der Dirigent zu mir, und dann ging der Konzertmeister hinaus und erklärte dem Publikum, daß wegen einer unerwarteten Temperaturschwankung ein kurzes Nachstimmen des Flügels erforderlich sei.
Es wurde eine Dreiviertelstunde, und ich war hinterher klatschnaß vor Schweiß. Im vollen Scheinwerferlicht vor aller Augen einen Flügel stimmen - es war eine Tortur. Zwar gab es am Schluß vereinzeltes Klatschen, aber ich kam mir vor wie einer, der wegen nicht gemachter Hausaufgaben vorgeführt wird. Und natürlich mußte ich gegen meine Wut ankämpfen.
Der Dirigent und Nestjev betraten die Bühne. Der Dirigent sagte ein paar Worte der Entschuldigung und wartete dann, bis Nestjev mit der Höhe der Klavierbank zufrieden war; das ist auch so ein Tick von ihm. Der Taktstock ging schon hoch, da wandte sich Nestjev zum Publikum und sagte:
‹Auch ich möchte mich entschuldigen. Die Klavierstimmer von Steinway sind nicht mehr das, was sie einmal waren.›
‹Nicht aufregen›, sagte der Mann, der den Saalmonitor überwachte. ‹Ganz ruhig bleiben. Er ist ein eitler Fatzke, das weiß doch jeder, und jetzt wissen wir, daß er auch ein Feigling ist.›
Wie ein Häufchen Elend hätte ich vor dem Flügel gesessen, schrieb eine Zeitung. Die Kollegen von Steinway glaubten mir, und auch der Dirigent ließ mir eine Botschaft dieser Art ausrichten. Israel Nestjev kam danach nie wieder nach Berlin. »
Über diesen Mann also ist eine Reportage gemacht worden, fünf Stunden Material, die ich auf vierzig Minuten zusammenschneiden soll. Eine arrogante Visage wie die habe ich noch nicht gesehen. Ein ewig beleidigter Ausdruck auf dem schmalen, käsigen Gesicht, das mit den hohlen Wangen und der spitzen Nase an einen Vogel erinnert. Dazu ein randloser Kneifer, ich habe nicht gewußt, daß es das überhaupt noch gibt. Wenn die Kollegen im Konzertsaal gefilmt haben, sieht man statt der hellen, fast farblosen Augen oft nur das Blitzen der Gläser im Scheinwerferlicht.
«Das Zucken muß natürlich raus», sagte der Kameramann am Telefon. Er meinte das Zucken, das ein-, zweimal in der Minute wie ein Gewitter über das Gesicht hinwegfegt. Wenn man den Film mittendrin anhält, ist es, als sähe man die stilisierte Maske eines Verblödeten. Eigentlich fällt es ja schwer, jemanden wegen so etwas nicht zu bedauern. Doch bei diesem Gesicht gelingt mir das mühelos. Das Zucken war nicht immer da, in den Aufnahmen aus der Jugend fehlt es, und auch bei dem Studenten sieht man es nur selten.
Er kam mit den Eltern, die offenbar glühende Zionisten waren, aus Rußland nach Israel. Den Zionismus spürt man auch in seinen eigenen politischen Äußerungen, die bemerkenswert dumm sind. Überhaupt scheint er ein Mann zu sein, der zwar brillant Klavier spielt, aber sonst nicht viel im Kopf hat. Wenn man das Material geschickt schneidet, kann man ihn wie einen einseitig begabten Crétin aussehen lassen. Es würde mich den Job kosten. Aber die Versuchung ist groß.
Es ist nicht nur die Versuchung, Papa zu rächen. Oder auch, Florence Bekkouche eins auszuwischen. Ich bin versucht, als Cutterin aufzuhören. Das überrascht mich. Noch wenige Tage vor Mamans Anruf sagte ich zu Stéphane, ich hätte das Gefühl, diese Tätigkeit wirklich gewählt zu haben. Und wenn ich mir vergegenwärtige, wie es dazu gekommen ist, sieht es ja auch so aus.
Ein halbes Jahr nach meiner Ankunft in Paris fand ich Arbeit in einem Reisebüro und zog von Madame Auteuil weg in eine Dachwohnung. Sie ist ein einziges Gewirr
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