Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
mein erster Impuls hineinzugehen und meine Erschütterung unter Filmbildern zu begraben. Wenn ich nachher auf die Straße träte, würde es sein, als wäre der Mann im Lift nie gewesen. Ich hatte die Eintrittskarte schon in der Hand, da warnte mich etwas: Kino, das stand doch für die Trennung von dir, und das Verwischen der Erinnerung war bereits mehr als genug der Trennung gewesen. Ich ging nach Hause.
    Stéphane war ratlos, als ich den ganzen Abend über schwieg. Das heißt, ganz ratlos war er wohl nicht.«Es gibt», sagte er einmal,«dieses ganz besondere, unverwechselbare Schweigen an dir, wenn du an Patrice denkst; ich existiere dann gar nicht. Es macht nichts», fügte er hinzu, als ich ihn entschuldigend ansah.
    Die Episode mit der Hand war nicht die letzte Erschütterung dieser Art. Viel tiefer noch traf es mich, als ich feststellte, daß mir auch deine inneren Konturen zu entgleiten begannen. Ich war mit Kollegen im Bistro gegenüber vom Studio. Es war von Wahlen in Algerien die Rede, und es entwickelte sich ein Streit über die Frage, wie weit sich Manipulationen vertreten ließen, um die Fundamentalisten, die zu jener Zeit den blanken Terror ausübten, von der Macht fernzuhalten. Zu solchen Fragen hattest du in der Regel sehr klare, leidenschaftlich vertretene Ansichten. Ohne es zu merken, muß ich dich im stillen nach deiner Meinung gefragt haben, denn auf einmal schreckte ich auf: Ich wußte nicht, was du sagen würdest. Ähnlich ging es mir ein bißchen später in einer hitzigen Diskussion über das Klonen von Menschen. Nicht, daß ich keine eigene Meinung gehabt hätte. Aber ich hatte mich in der Gemeinsamkeit unserer Ansichten und unseres Empfindens geborgen gefühlt. Plötzlich nun baute sich bedrohlich groß die Aufgabe vor mir auf, ein Urteil und Empfinden zu entwickeln, das dieser Gemeinsamkeit entbehrte.
    Später, als ich mich an diese Aufgabe gewöhnt hatte und die Freiheit zu spüren begann, die sie mir verlieh, geschah etwas Paradoxes: Mit einemmal waren meine Erinnerungen wieder vollkommen klar und verläßlich, natürlich war es deine linke Hand, die durchs Haar fuhr (gesprochen hatten wir nicht darüber, sondern über deine für einen Linkshänder erstaunliche Angewohnheit, heranfliegende Bälle, und nur sie, mit rechts abzuwehren), und natürlich hättest du Wahlbetrug nicht vertretbar gefunden. Es war, als habe das Erinnerungsvermögen planvoll gestreikt, um mir die schmerzhafte Verselbständigung abzutrotzen.

    Die erste Arbeitswoche seit meiner Rückkehr ist vorbei. Als ich das Studio am Montag morgen betrat, erwartete mich eine schriftliche Anweisung von Madame Bekkouche: Sie untersagte mir, mit dem alten Jean an dem Film zu arbeiten, von dem er mir erzählt hatte. Ich war sicher, daß das mit meiner Ablehnung der angebotenen Wohnung zu tun hatte, und erzählte Jean davon.«Aber da ist sie doch vor kurzem selbst eingezogen», sagte er, als er die Adresse hörte.«Sieht nach einem ziemlich persönlichen Interesse an dir aus.»
    Was ich statt jenes Films machen sollte, klang zunächst langweilig: den Schnitt für eine Fernsehreportage über einen Pianisten, eine Art Portrait. Dem Namen des Mannes schenkte ich keine besondere Aufmerksamkeit. Bis es im Laufe des Vormittags plötzlich klickte: Israel Nestjev aus Tel Aviv, das war doch der Mann, der Papa an den Pranger gestellt hatte, um nicht selbst schlecht auszusehen.«Es gibt viele Pianisten, die befürchten, vom Orchester übertönt zu werden», hörte ich Papa sagen,«doch bei keinem ist das so ausgeprägt wie bei Nestjev. Unsere Begegnung stand unter keinem guten Stern, denn er trauerte meinem Vorgänger nach und betrachtete mich von Anfang an mit Mißtrauen.
    ‹Wie Sie vielleicht wissen, wird die Tonlage eines Orchesters im Laufe eines Konzerts etwas höher›, sagte er, ‹und ich möchte sicher sein, daß ich trotzdem gehört werde. Stimmen Sie den Flügel also nach oben, sagen wir auf 441 Hertz.›>
    Das tat ich. Nach der Probe, bei der er darüber kein Wort verlor, sagte er:
    ‹Heute abend will ich ihn auf 444 Hertz haben.›
    ‹Das könnte Probleme mit dem Orchester geben›, gab ich zu bedenken.
    ‹Sie haben gehört, was ich sagte: 444 Hertz.›
    Ich bin Allüren gewohnt, aber so hatte mich noch keiner behandelt. Ich wußte, daß es nicht gutgehen konnte. Bei jedem anderen hätte ich genickt und wäre bis 442 Hertz gegangen. Bei Nestjev war es mir egal, ich hatte sogar Spaß beim Gedanken an eine Blamage. Ich stimmte auf

Weitere Kostenlose Bücher