Der Klavierstimmer
kein bißchen peinlich.»Nach einer Pause fügte Maman hinzu:«Ich glaube, das war der Moment, als ich zum erstenmal spürte, daß ich ihn nicht nur brauchte, sondern auch mochte.»
(Weißt du noch, wie Vater uns Kindern, als wir mit ihm vor dem Grand Théâtre standen, erzählte, daß er damals mit brennendem Gesicht im Dunkel des Zuschauerraums gesessen habe? Bei ihrer Erzählung zitierte Maman genau die gleiche Formulierung. Auch das war Vater: Das erzählerische Erinnern bewegte sich gestanzten, unwandelbaren Formulierungen entlang, von denen er einmal entschieden hatte, daß sie treffend waren.)
«Von allem, was er damals sagte», fuhr Maman fort,«haben mich seine Worte über die Gefühle der Zuhörer am meisten beeindruckt. Da saßen all diese Menschen ganz still da, sagte er, und man hatte den Eindruck, daß es auch in ihnen drin still geworden war. Für die Länge einer Aufführung machten sie Raum für die großen Gefühle, die sonst nicht zu Wort kamen. Ohne das Geringste voneinander zu wissen, saßen sie nebeneinander, regungslos und ganz der Musik hingegeben. In der Wut, mit der sie jemanden anzischten, der es wagte, ein Geräusch zu machen, kam zum Ausdruck, wie groß die Sehnsucht war, sich wenigstens für diese kurze Zeitspanne vergessen zu dürfen - bevor sie dann zurück mußten in die Welt der Enttäuschungen und zurück in die Tapferkeit, mit der die kleinen, schäbigen Dinge des Lebens zu bewältigen waren. Immer, wenn wir zusammen in der Oper waren, mußte ich an diese Worte denken. Auch am Mittwoch abend», fügte sie leise hinzu.
Jetzt, als Erzählende, erkannte ich Maman wieder als diejenige, die in den Briefen zu mir gesprochen hatte. Sie sprach zusammenhängend und flüssig. Das Morphium hatte ihr jene zerbrechliche, trügerische Ruhe verliehen, die uns stets so unheimlich war, weil sie nicht aus ihr selbst kam, sondern geborgt war. Nur hin und wieder vergaß sie, einen Satz zu Ende zu bringen, und gegen Morgen, als die Wirkung des Morphiums nachließ, kam wieder jene gesteigerte Form von Zerstreutheit zurück, in der ihre Sätze unvollendet blieben. Ein einziges Mal nur brach sie einen Satz in jenem abwartenden, ja lauernden Tonfall ab, den sie gewählt hatte, wenn wir penser pensées spielten, und ich glaube nicht, daß es Absicht war, eher war es, wie wenn uns in einem unpassenden Moment eine alte Gewohnheit die Regie aus der Hand nimmt. In den Pausen, die entstanden, achtete ich auf mich selbst und war - trotz des Unglücks, dessen Zeuge ich war - erleichtert zu spüren, daß meine Sucht, die Sätze für sie zu Ende zu denken und zu sprechen, viel von ihrer Macht über mich verloren hatte. Sie war nur noch spürbar als ein schwaches Echo aus ferner Vergangenheit. Wenn ich Maman ab und zu half, einen angefangenen Satz abzuschließen, geschah es nicht mehr aus einem Zwang, sondern einem Gefühl der Fürsorglichkeit heraus. Mein Groll gegen sie kam in jenen Nachtstunden zur Ruhe. Die Sanftheit, mit der sie über Vater sprach, nahm den Erinnerungen, die sich von Zeit zu Zeit zwischen uns drängten, die Schärfe.
Für einige Augenblicke hatte ich den Eindruck (vielleicht war es auch nur Erwartung), sie würde nun über den Abend der Tat sprechen. Doch soweit war sie noch lange nicht.
«Als wir wieder in Genf angekommen waren», fuhr sie fort,«und in Frédérics kleinem Appartement saßen, traute er sich schließlich, mir von seiner Teilnahme an einem Opernwettbewerb zu erzählen. Er mußte sich - buchstäblich - einen Ruck geben, ich sehe die Bewegung noch heute vor mir. Verlegen holte er die Partitur hervor und zeigte mir eine Seite nach der anderen. Vor jedem Umblättern wartete er so lange, als sei ich eine geübte Leserin von Partituren, die das Geschriebene als Klangbild zu hören verstand. Sollte die Oper gedruckt werden, sagte er, werde er sie mir widmen.
Ob ich mich noch erinnere, wie er mir seine erste Oper habe widmen wollen, fragte er mich am Tage, als der Brief aus Monaco gekommen war. ‹Das ist sechsundzwanzig Jahre her, mehr als ein Vierteljahrhundert›, sagte er, ‹jetzt endlich kann ich dir eine Oper widmen.›»
Im Kampf gegen die Tränen verzog Maman das Gesicht zu einer Grimasse. Schließlich öffnete sie die Augen, streifte mich mit einem scheuen Blick, der mich um Geduld zu bitten schien, und nahm eine Zigarette. Für einige Minuten vollzog sich in ihrem Gesicht eine wundersame Verwandlung: Das erschöpfte, tränennasse Gesicht wurde von einem gelösten,
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