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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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auf und ab gegangen bin. Und ich habe keine Ahnung, was ich dort eigentlich wollte. Auf der anderen Seite der toten Straße liegt das Gefängnis für Jugendliche, ein gigantischer Bau, der einen denken läßt: So viele Jugendliche können es gar nicht sein, die etwas angestellt haben. Außerhalb der Mauern des Frauengefängnisses liegt ein Wohnhaus, das einzige weit und breit. Die Fenster waren erleuchtet. Ich fand es unglaublich, daß hier jemand wohnen wollte (selbst wenn es Gefängnispersonal war; oder gerade dann). In den Wachtürmen war niemand. An der Autozufahrt gibt es eine Ampel. Sie stand auf Rot. Sie würde die ganze Nacht auf Rot stehen. Noch nie war eine Ampel so rot gewesen. Die dunkle, menschenleere Stille auf der Straße machte das Rot hart und gefährlich. Es war ein Rot, das alles in sich vereinigte, wovor man sich fürchten konnte, und alles, was man hassen konnte. Wenn sie Maman brachten, würde die Ampel auf Grün geschaltet werden. Ich konnte nicht weggehen, bevor ich dem Rot getrotzt hatte. Ich vergaß zu atmen, als ich die weiße Linie auf der Straße überschritt. Später, im Traum, brach daraufhin etwas los, ich habe vergessen was; nur daß es etwas Rotes war, weiß ich noch. In Wirklichkeit geschah nichts. Vor dem Besuchereingang blieb ich stehen. Wenn sie Maman holen kamen, würde ich durch diese Tür gehen. Ich würde immer wieder durch sie gehen. Ich könnte Berlin nicht mehr verlassen. An einem Flugzeugfenster sitzen und auf die Stadt hinunterblikken, in der Maman hinter Gittern saß: Das war undenkbar. Ganz und gar ausgeschlossen. Und mit Vater war es das gleiche. Auch ich war von nun an ein Gefangener.
    Ein Mann auf einem Fahrrad bog in die Straße ein. Ich machte ein paar rasche Schritte, bis ich wieder auf dem Trottoir stand.
    «Was machen Sie hier?»fragte er und stieg ab.
    «¡Vete a los diablos!» sagte ich.«Geh zu den Teufeln!»Es war die Wendung, die Paco benutzen würde. Je öfter man ihm sagte, daß die Mehrzahl hier nicht am Platze sei, desto hartnäkkiger sprach er von Teufeln, manchmal sogar von vielen Teufeln. Auch die Hände vergrub ich wie Paco in den Taschen. Der Mann, der unter dem Mantel die Uniform des Gefängnispersonals trug, zögerte noch einen Moment und ging dann weiter. Bevor er im Eingang des Jugendgefängnisses verschwand, blickte er zurück. Alle waren sie an diesem Abend meine Feinde. Ich rührte mich erst, als die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war.

    Das Entrée war dunkel, als ich das Haus betrat. Der schmale Lichtschein, der durch die angelehnte Tür des Boudoirs nach außen drang, war ein leuchtender Strich. Maman mußte seit Stunden auf mich gewartet haben; sie rief nach mir, kaum war die Haustür ins Schloß gefallen. Ich war erstaunt über die Festigkeit in ihrer Stimme. Sie paßte weder zu der gebrochenen Frau, die mir am Nachmittag die Tür geöffnet hatte, noch zu der Gestalt, die vor wenigen Stunden gedankenverloren über die Opernkarten gestrichen hatte. Langsam ging ich den Flur entlang. Ich spürte das Herz pochen. Es würde das erste Mal sein, daß ich dieses Zimmer betrat.
    Der Raum hatte mit dem Genfer Boudoir nicht mehr die geringste Ähnlichkeit. Alles war neu: der Schminktisch, die Spiegel, das Sofa, die Sessel und Teppiche, die Vorhänge. Nichts erinnerte mehr an GPs verschnörkelten, parfümierten Geschmack. Auch die Beleuchtung war eine andere; das gedämpfte Licht, das sich in der Erinnerung mit der Empfindung des Verbotenen vermischte, war einem klaren, fast weißen Licht gewichen, das eine nüchterne Atmosphäre entstehen ließ. Nur der Sekretär war der alte.
    Ich war verwirrt. Meine Gefühle, die aus dem Schatten der Vergangenheit hervortraten, konnten sich gegen nichts richten und sich von nichts abstoßen; sie stießen ins Leere. Es fällt mir schwer, es zuzugeben, aber ich fühlte mich betrogen - als hätte jemand heimlich Bühnenbild und Requisiten ausgetauscht, so daß ich, ohne es zu merken, schon seit langem im falschen Stück spielte, mit längst überholten Gefühlen und Gedanken. Ich hatte erst wenige Schritte in den Raum hinein getan, da kam mir der Gedanke: Es war unnötig gewesen, eine unnötige Grausamkeit, Mamans Briefe nicht zu öffnen. Mein Groll und meine Verweigerung hatten in den letzten Jahren einer Frau gegolten, die es so nicht mehr gab. Indem sie den Raum, der im ganzen Haus am meisten der ihre war, vollkommen veränderte, hatte Maman einen Abstand zum Vergangenen hergestellt. Es lag mir die Frage

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