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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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dem Frühstück in einen strahlenden Tag hinaustraten, holte Frédéric die Kopien der Kritiken aus der Jacke, warf einen langen Blick darauf und ließ sie dann in einen Abfallkorb fallen. Dieses Bild habe ich nie vergessen. Es lag so viel Hoffnung darin: die Hoffnung, er würde sich von seinem versklavenden Erfolgstraum befreien, ihn eines Tages so locker abschütteln können wie diese Papiere. Es wurde ein Urlaubstag bei wolkenlosem Himmel. Ich hatte kaum Schmerzen, und manchmal nahm ich den Stock aus Übermut unter den Arm. Es kam vor, daß wir Hand in Hand gingen.
    ‹Wie kann man nur Paul August heißen›, sagte er am nächsten Tag im Zug, auf die Vornamen des dänischen Komponisten von Klenau anspielend. Es lag noch ein Rest des gestrigen Humors in seiner Stimme, aber auch die alte Verbissenheit klang bereits wieder durch. Zu Hause angekommen, setzte er sich mit beklemmender Hast an den Schreibtisch und griff zur Feder. ‹Meine wird besser›, sagte er, ‹viel besser.› Die kurze Befreiung und meine kühne Hoffnung waren zu Ende.»
    Maman machte eine lange Pause und probierte eine neue Sitzhaltung aus. Jetzt, wo sie die Hände anders faltete, sah ich, wie brüchig das Morphium die Fingernägel inzwischen gemacht hatte; da half auch der dunkle, dick aufgetragene Nagellack nicht mehr.
    «Trotzdem wurde es eine gute Zeit», fuhr sie schließlich fort.«Die Arbeit an der Oper, sie veränderte Frédéric, und sie veränderte ihn so schnell, daß manchmal eine bloße Woche bereits einen großen Unterschied in seinem Inneren zu machen schien. Er wurde sicherer, verschlossener und zärtlicher zugleich - es war, als wachse er nach innen, hin zu sich selbst. Wenn ich das sah, beneidete ich ihn. Ab und zu erzählte er vom Heim, von den Ungerechtigkeiten und Demütigungen - es waren lauter Dinge, die er zuvor nie erzählt hatte. Erst jetzt, wo die Musik seine Seele verflüssigte, konnte er darüber sprechen. Nicht selten arbeitete er bis in den Morgen hinein, fast bis zum Umfallen. Oft kam er mitten in der Nacht zu mir, seine Augen glänzten, und dann ging ich hinunter und hörte zu, wenn er mir ein neues Thema vorspielte.
    Auch über die Figuren und das Libretto sprachen wir oft. Zu Beginn war es manchmal ein Kampf, denn er schien mir mit Kleists Geschichte viel zu frei umzugehen, es kam mir abenteuerlich vor, was in seinen Händen daraus wurde. Mehr als einmal schlug ich vor hinauszufahren und uns die Orte und Landschaften in Sachsen und Brandenburg anzusehen, wo die Erzählung spielte. Bücher mit dem geschichtlichen Hintergrund hatte ich längst besorgt. Mit Ungeduld, für die er sich verlegen entschuldigte, wehrte er ab. Allmählich verstand ich, daß es darauf überhaupt nicht ankam: Bei der Oper handelte es sich um eine Geschichte, die nur zum Schein draußen in der Welt spielte; in Wirklichkeit war sie ein Drama in seinem Inneren, und meine Aufgabe war, ihm bei der Entfaltung dieses Dramas zu helfen. Hätte ich das nur schon früher begriffen, bei all den anderen Opern!»
    Maman strich sich mit dem Handrücken über die Stirn, als wolle sie diese Verfehlung, dieses viel zu spät entdeckte Versäumnis wegwischen.
    «Es gab eine einzige Figur, bei der ich mich nicht einmischen durfte: Lisbeth, Kohlhaasens Frau. Nur er, er ganz alleine, wisse, wie sie sei, sagte er, und es klang, als gehe es um eine Entdeckung und nicht eine Erfindung. Erst als die Oper praktisch fertig war, bekam ich die Arien zu hören und zu lesen, die mit Lisbeth zu tun hatten. Frédéric stand mit dem Rücken zu mir am Fenster, als ich den Text las. Er war eine Liebeserklärung, und sie galt, da konnte es keinen Zweifel geben, mir. Solche Worte hatte ich aus seinem Munde nie gehört. Er hatte diesen Rahmen gebraucht, um sie äußern zu können.
    ‹Es ist unsere gemeinsame Oper›, sagte er, als wir nachher zusammen am Fenster standen, ‹deine genauso wie meine.›
    Und das nach sechsundzwanzig Jahren! Aber so ist er; genau so.»Maman schluckte und würgte mehrmals, bevor sie hinzufügte:«Und jetzt ist er im Gefängnis.»Sie öffnete die Augen und sah mich an:«Aber nicht mehr lange.»
    Alles, was sie später tat, war in diesem einen Blick vorgezeichnet. Alles. Ein letztes Mal dachte ich an das rote Licht in Plötzensee. Nein, sie würde in keinem Polizeifahrzeug sitzen, das dort vorfuhr.

    Soeben habe ich noch einmal die Arien gehört, in denen Kohlhaas und Lisbeth zueinander sprechen. Du meine treue Gefährtin! singt Kohlhaas. Maman muß

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