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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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auf der Zunge, wie lange diese Veränderung schon zurücklag. Doch diese Frage hätte eine gefährliche Nähe geschaffen, die es um jeden Preis zu vermeiden galt.
    Auf der Schreibplatte des Sekretärs lagen zwei verschlossene Kuverts. Auf dem einen, dickeren, stand Vaters Name. Das andere trug keine Aufschrift. Das hellbeige Papier, die blaßblaue Tinte, die hauchdünnen Schriftzüge: alles genau wie bei den sechsundsiebzig Briefen, die in meiner Kommode, unter der gehäkelten Decke, verschwunden waren. Ich wußte sofort, was in den beiden Umschlägen sein mußte. Doch kaum hatte sich dieses Wissen gebildet, schob ich es auch schon gewaltsam zur Seite. Dafür war ich noch nicht bereit.
    «Möchtest du eine Tasse Tee?»fragte Maman.«Und etwas Gebäck? »
    Mit der verbundenen Hand griff sie nach der Teekanne auf dem Réchaud und begann mir in die bereitstehende Tasse einzugießen.
    «Du trinkst ihn immer noch mit viel Milch und Zucker, à l’anglaise ?»fragte sie dann, das Milchkännchen in der einen, den Kandiszucker in der anderen Hand. Sie blickte mich nicht an, und dadurch wirkte die Frage wie etwas, das eigentlich gar nicht in der Gegenwart geschah, sondern wie ein bloßes Echo aus der Vergangenheit war. Am liebsten hätte ich nichts geantwortet.
    «Ja, bitte», sagte ich schließlich.
    Vier oder fünf Sorten Biskuits füllten die Schale. Maman nannte sie alle beim Namen und schilderte ihre Vorzüge. Ich hörte nicht mehr hin. Draußen regnete es in Strömen. Die Pendule im Entrée schlug zwei Uhr.
    «Du trinkst ja gar nicht», sagte Maman leise.
    Ich dachte an die rote Ampel in Plötzensee. Es war gespenstisch.
    Maman sank in den Sessel zurück und schloß die Augen. Die nächtliche Teestunde war zu Ende. Ein letztes Mal hatte sie alles aufgeboten, um den Schein zu wahren - so, wie man es sie gelehrt hatte. Vielleicht hatte sie mir auch zeigen wollen, daß sie wußte, wie man sich einem erwachsenen Sohn gegenüber benahm. Das war jetzt vorbei. Von nun an würde es nur noch um die Wahrheit gehen. Ohne die Augen zu öffnen, strich sie das blaue Kleid glatt und suchte nach einer Haltung, in der die Hüfte am wenigsten schmerzte. Die Pendule tickte aufdringlich laut. Mit schmerzverzerrtem Gesicht, die Hand an der Hüfte, erhob sich Maman plötzlich, humpelte hinaus und stellte das Ticken ab. Es war, als habe sie damit für uns beide eine besondere Zeit geschaffen, eine Zeit des Erinnerns und Erzählens, die man mit keiner Uhr messen konnte. Danach setzte sie sich genauso hin wie zuvor, so daß es schien, als sei sie gar nicht hinausgegangen. Langsam faltete sie die Hände im Schoß. Ihre Züge entspannten sich und ließen die Erschöpfung sichtbar werden. Die Augen immer noch geschlossen, begann sie zu sprechen.
    Sie erzählte wieder einmal von der Reise zur Mailänder Scala. Zunächst war ich überrascht, daß jenes ferne Ereignis zur Sprache kam. Doch bald verstand ich, warum sie so weit ausholte: Sie wollte mir (und vielleicht auch sich selbst) erklären, wie es zu der blutigen Tat in der Oper hatte kommen können. Dieses Mal war es nicht die übliche Geschichte, die wir früher nicht mehr hören konnten, weil sie durch die Wiederholung etwas Erstarrtes bekommen hatte und zu einer erzählerischen Ikone verkommen war, einer Familienikone, aus der die Wahrheit des Erlebens längst gewichen war. Vielmehr sprach sie davon, wie sie und Vater am nächsten Morgen in der berühmten Galleria gefrühstückt hatten.
    «Dort erzählte er mir zum erstenmal von der geheimen Sehnsucht, ein großer Opernkomponist zu werden. Und wie um zu beweisen, daß er dazu die Fähigkeit besaß, sprach er den Kellner im antiquierten, barocken Italienisch der Oper an. Erst viel später fand ich heraus, daß dies das einzige Italienisch ist, das er kann», sagte sie.
    Unter ihren Wimpern bildeten sich Tränen, und es waren keine Morphiumtränen.
    «Er erzählte von seinem ersten Opernbesuch in Genf, im Grand Théâtre. Wie er dort mit brennendem Gesicht im Dunkel saß, den Applaus hörte, der nicht enden wollte, und dachte: Auch ich werde so etwas komponieren, und am Ende werde auch ich auf der Bühne stehen und solchen Beifall bekommen. Er vergaß, daß wir in einem Café saßen, und sprach viel zu laut, so daß sich die Leute zu uns umdrehten. Ich ließ ihn reden; es wäre zu grausam gewesen, ihn in der Begeisterung, die er noch einmal durchlebte, zu stören. Und zu meiner Verblüffung waren mir die neugierigen und aufgebrachten Blicke

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