Der Klavierstimmer
glücklichen Ausdruck überzogen. Nicht daß Erschöpfung und Verzweiflung unsichtbar geworden wären. Was die Erinnerung auf ihre Züge zauberte, war ein hauchdünner, durchsichtiger Ausdruck des Glücks, der gar nicht wirklich auf dem Gesicht zu liegen, sondern, durch einen infinitesimalen Abstand getrennt, vor ihm zu schweben schien. Ab und zu, während sie mit sanfter, liebevoller Stimme erzählte, überfiel mich der Gedanke an die rote Ampel in Plötzensee. Dann wünschte ich, die Zeit für sie anhalten und den Zustand des glücklichen Erinnerns einfrieren zu können. Damit der Augenblick niemals käme, in dem sie mir die schreckliche Wahrheit offenbaren würde.
Sie erzählte von der Zeit, in der Vater an der neuen Oper, der Vertonung von Michael Kohlhaas , arbeitete. Es müssen die zwei glücklichsten Jahre gewesen sein, die sie zusammen erlebten. Etwas davon wußte ich ja schon aus den Briefen. Doch wieviel lebendiger und eindringlicher waren die Episoden, die sie nun erzählte! Die Hände, die bisher still in ihrem Schoß gelegen hatten, beteiligten sich jetzt am Erzählen. Manchmal balancierte sie ihre Worte am Rande der Tränen entlang, in denen sich vergangenes Glück und gegenwärtiger Schmerz mischen würden.
«Die Idee zu dieser Oper kam Frédéric in der U-Bahn, sagte er. Er war zum Stimmen bei einer Studentin der Kunsthochschule gewesen, die er beim Kauf eines Klaviers beraten hatte. Sie hatte gerade Kleists Novelle gelesen und erzählte davon. Frédéric kam erst spät nach Hause, er hatte immer noch mehr wissen wollen. Ein Mann, der um jeden Preis zu seinem Recht kommen wollte - das war ein Stoff, in dem er sich sofort wiedererkannte. Bis spät in die Nacht hinein berichtete er mir auf seine holprige Weise alles, was er von der Studentin gehört hatte. Er war so aufgeregt, daß er sich den Schweiß von der Stirn wischen mußte. Seine Begeisterung - ein bißchen war es wie damals in Genf, als er mir vom Opernwettbewerb erzählte. In der Wohnung der Studentin hatte er noch nicht an eine Vertonung gedacht. Da war er einfach fasziniert davon gewesen, daß jemand über einen Mann geschrieben hatte, der war wie er.
‹Weißt du, an was ich zuerst dachte?› fragte er mich. ‹Daran, daß Mutter wegen der Narbe im Gesicht nur in der zweiten Klasse des Bahnhofsbuffets bedienen durfte, wo es immer Dunst aus Rauch und Biergeruch gab und wo die Männer mit den dicken Bäuchen sie überall betatschten. Sie konnte das Haar sooft waschen, wie sie wollte, der verfluchte Geruch blieb.›
In der U-Bahn dann (er wußte sogar noch die Station) hatte er auf einmal gedacht: Aus dieser Geschichte mache ich eine Oper. Meine Oper. Noch in derselben Nacht holte er aus Patricias Zimmer den Text und begann zu lesen. Vorher sah er die Opernführer durch und stellte triumphierend fest, daß er recht gehabt hatte: Aus diesem Stoff hatte noch niemand eine Oper gemacht.
Einige Monate später, als der erste Akt bereits fertig war, kam ein neues Opernlexikon heraus, umfassender als alle bisherigen. Frédéric blätterte im Laden darin und stellte fest, daß es doch schon zwei Kohlhaas -Vertonungen gab, die eine von einem Dänen, die andere von einem Österreicher. Tagelang war er geknickt und mutlos. Dann bat er mich, ihn nach Linz zu begleiten, wo die Vertonung von Karl Kögler, dem Österreicher, uraufgeführt worden war. Wir fuhren hin, setzten uns in den Lesesaal der Bibliothek und arbeiteten uns auf der Suche nach einer Besprechung durch die großen Zeitungen von 1989. Am Ende des zweiten Tages wurden wir fündig. Es gab zwei Kritiken, beide auf laue Weise positiv. Frédéric machte Fotokopien, dann schlenderten wir durch die Stadt und setzten uns in ein Café.
‹Michael Kohlhaas ist doch kein Baß›, sagte er, ‹und auch kein Bariton wie bei dem Dänen. Der Gipfel aber ist: Lisbeth als stumme Rolle. Der hat wirklich keine Ahnung. Ich mache sie zu einem lyrischen Mezzosopran.›
Später, im Hotel, kam er ins Bad, unsere Blicke trafen sich im Spiegel, und da verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln, wie ich es an ihm schon lange nicht mehr gesehen hatte.
‹Sie war Unsinn, diese Reise›, sagte er. Ich drehte mich zu ihm um, und wir fielen uns mit einem befreienden Lachen in die Arme. ‹Nach Kopenhagen fahren wir nicht›, sagte er, als wir nebeneinanderlagen. Es war verrückt: Ich war richtig enttäuscht, so gut gefiel es mir auf dieser unsinnigen Reise.
Wir blieben noch einen weiteren Tag in Linz. Als wir nach
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