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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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eines Films, ich sah uns beide von außen, und die Straße wurde gegen den Horizont zu immer schmaler.
    « Er hat Wort gehalten - das war das erste, was ich dachte, als ich den Brief aus Monaco las, den mir Frédéric wortlos und mit Tränen in den Augen überreichte», sagte Maman in meine unwirklichen Fluchtgedanken hinein. Sie schwieg eine Weile und dachte über ihre Worte nach.«Als hätte Antonio mir etwas versprochen. Und nicht nur das: als hätte er mir ein völlig freiwilliges Versprechen gegeben, weil er etwas wiedergutmachen wollte. Nein, eigentlich noch anders: weil er Frédéric durch seinen überlegenen Sachverstand endlich zu der verdienten Anerkennung verhelfen wollte. So wollte ich es sehen. Nur so konnte ich es sehen. Nur so konnte ich die … die Erpresserin vergessen, die ich nie hatte sein wollen. Aber das gelang immer nur für kurze Momente, dann holte mich die Wahrheit wieder ein.
    Seit Mitte Januar hatte ich jeden Morgen am Fenster gestanden und auf den Postboten gewartet. Mit jedem Tag hatte ich weniger daran geglaubt und war mir von Mal zu Mal hilfloser vorgekommen. Die Telefonnummer von Paris Match lag im Sekretär. Aber ich wußte die ganze Zeit über, daß ich sie nicht wählen würde. Frédérics wegen nicht, euretwegen nicht - und auch meinetwegen nicht. Und nun hatte er es tatsächlich getan. Frédéric umarmte mich lange, noch heute kann ich seine Tränen auf dem Hals spüren. Er hat Wort gehalten, sagte ich mir vor und beschwor die unschuldige Deutung von Antonios Tun.
    Doch genau in jenem Moment versagte die Lüge. Ich war nach Paris gefahren, damit ein Moment wie dieser Wirklichkeit würde. Und nun war er nichts wert. Frédérics Oper hatte nicht die Chance gehabt zu gewinnen, weil sie die beste war. Ich fühlte mich schwer und plump vor Scham, als er mich voller Übermut hochhob und in der Luft herumwirbelte.
    Paris Match brachte eine Doppelseite voller Bilder von Antonios Hochzeit. Palazzi, Kronleuchter, Gondeln, Karnevalskostüme. Das verlogene Weiß seiner Zähne. Auf dem Fest hatte er natürlich gesungen. Einen Vormittag lang betrachtete ich die Bilder. Ich dachte daran, wie er sich nach meinem Stock gebückt hatte. Ich hörte seine Frage nach dem Unfall. Wie groß muß deine Angst gewesen sein!, dachte ich. Ich dachte es ohne Triumph. Schließlich packte ich die Zeitschrift ein und warf sie in einen weit entfernten Abfallkorb.»
    Mit langsamen, matten Bewegungen nahm Maman eine Zigarette.
    « Et puis on attendait … on attendait … toujours. Ich habe dir davon geschrieben. So oft. Du …du hast nie geantwortet.»
    Lange Momente verstrichen, bis sie mich schließlich anblickte. Es war ein Blick voller Bitterkeit, der uns beide zurückwarf, plötzlich erschien die neue Nähe der letzten Stunden wie nie gewesen. Ich hätte mir gewünscht, diesen Blick ruhig aushalten zu können. Statt dessen erstarrte ich in alter Abwehr und Wortlosigkeit. Ich sah vor mich hin und dachte an die gehäkelte Decke auf der Kommode in Santiago, unter der Mamans Briefe verschwunden waren. Ich war froh, daß ihre Stimme wie vorher klang, als sie schließlich fortfuhr und mit wütender Resignation Worte aus Monaco zitierte, die ich aus ihren Briefen kannte.
    « Le bon moment. Pour des raisons imprévues. Diese nichtssagenden Formeln, die erste am Anfang, die zweite am Ende der Hoffnung. Dazwischen die fürchterliche Reise nach Monaco.»
    Rastlos verschränkte, löste und verschränkte Maman die Hände, sie muß noch einmal durch die quälenden Stationen jener Reise geglitten sein wie durch Abschnitte eines Alptraums.
    «Ich darf nicht daran denken, wie viele Stunden Frédéric mit Warten verbrachte, tagsüber bei den Schließfächern, nachts vor der Fürstenresidenz. Währenddessen stand ich vor einem Wohnhaus mit Baldachin, Concierge und einem Entrée aus Marmor. Es war Antonios Adresse, sie hatte im Telefonbuch gestanden. Sein Name war nirgendwo, aber neben dem obersten Klingelknopf gab es eine Leerstelle, und beim Penthouse waren alle Jalousien heruntergelassen. Ob ich eine neue Freundin des Maestro sei, wagte mich die Concierge zu fragen. La vieille garce! Sie musterte mich von oben bis unten wie ein Stück Vieh. ‹Oder wohl eher eine Verflossene!› fügte sie grinsend hinzu. Einzubilden brauche ich mir darauf nichts, es gebe sie wie Sand am Meer. Putain! »
    Maman erstickte fast, als sie an diese Demütigung zurückdachte. Ihre Züge verzerrten sich in Haß. Ich hatte nicht gewußt, daß ihr

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