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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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sorgen, du bist der Vorsitzende der Jury.›
    ‹Es gibt sieben …›
    ‹Du wirst dafür sorgen.›
    Wieder schloß er die Augen. Doch dieses Mal war es nicht das Gesicht von einem, der taumelt, sondern einem, der sehr wach ist und rechnet.
    ‹Und wenn nicht?›
    ‹Von Mitte Januar bis Karneval, das ist ein Monat. Da kann viel passieren.›
    Kaum merklich schüttelte er den Kopf und wischte mit beiden Händen über das aschfahle Gesicht, als könne er das Unglaubliche verscheuchen. ‹Du versuchst tatsächlich, mich zu erp...›
    ‹In einem Monat kann viel passieren. Sehr viel. Ein Glück, daß es Paris Match gibt.›
    Später, im Café, dachte ich, daß ich nach diesen Worten hätte gehen sollen. Den Mantel nehmen und hinausgehen, ohne mich noch einmal umzudrehen. Aber das Drohen hatte mich erschöpft, ich hatte nicht gewußt, wie anstrengend Drohungen sein können, ich hatte keine Erfahrung darin. Ich glaube, ich sah plötzlich müde und unsicher aus, vielleicht sah man mir auch die Schmerzen an. War es deshalb, daß mir Antonio in den Mantel half? Oder war es, weil er mich, die unberechenbare Gegnerin, gnädig stimmen wollte? Ich weiß es nicht.»
    Maman hielt inne. Ihre Augenlider, auf denen ich feine blaue Äderchen entdeckte, zuckten wild und unregelmäßig. Sie ruhte sich nicht aus, sie kämpfte mit Erinnerungen, die Hände krampfhaft ineinander verschlungen.
    «Da war noch die Sache mit dem Stock, den ich fallen ließ. Es geschah nicht mit Vorsatz, als Teil eines Kalküls. Und doch irgendwie mit Absicht. Das merkte ich, als Antonio sich bückte, um ihn aufzuheben. Er, der mir bei der Ankunft nicht einmal aus dem Mantel geholfen hatte, bückte sich jetzt, da er wußte, wie gut meine Karten waren, sogar nach dem Stock. Doch statt Genugtuung empfand ich Scham, und da wußte ich, daß es ein billiges Manöver gewesen war, ihn fallen zu lassen. Als Herrscherin über Untertanen tauge ich nicht. Schon eher als M …»
    Sie schluckte, es schien mir das lauteste Schlucken zu sein, das ich je gehört hatte.
    «Als er mir den Stock reichte, trafen sich unsere Blicke, und ich glaube, ich lächelte ein bißchen - als Entschuldigung. Er konnte sich keinen Reim darauf machen und erwiderte das Lächeln nicht. Doch was dann kam, ist vielleicht aus der veränderten Atmosphäre heraus entstanden, die mein Lächeln bewirkt hatte.
    ‹Ein Unfall?› fragte er und deutete auf mein Bein. Er traf den richtigen Ton, haargenau den richtigen. Plötzlich war er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte, und dazu gehörte, daß er ein Meister des Tons war, nicht nur im Gesang, sondern auch im Modulieren seiner gewöhnlichen Stimme, mit der er noch die feinste Stimmungsnuance gezielt zum Ausdruck bringen konnte. Er machte nicht den Fehler, Mitleid in die Stimme zu legen. Nicht die Spur. Er wählte den sachlichen Ton des Arztes, jene unverwechselbare Sachlichkeit, welche auf Nähe angelegt ist, eine Nähe, die eigentlich gar nicht der Fragende schafft, sondern der Gefragte, der schnell bereit ist, schmerzliche Einzelheiten aus seiner Lebensgeschichte preiszugeben, um sich einen Augenblick lang auf der ärztlichen Sachkunde ausruhen zu können.
    Und ich fiel darauf herein. ‹Es war … ja, du … vor dem Hotel …› Während ich mit den Worten kämpfte, oder vielmehr gegen sie, da sie mich zu verraten drohten, umspülte mich ein Strudel von Bildern, Bilder von den Arkaden in Bern, von der Blondine, die ihn damals begleitet hatte, Bilder aber auch von Umarmungen in ferner Vergangenheit, versunkene Bilder, die ich für immer ausgelöscht geglaubt hatte, dazu übermannte mich plötzlich das Bedürfnis, die Verachtung und die Drohung, derer ich mit einemmal nicht mehr sicher war, zurückzunehmen, ja ungeschehen zu machen, ich war meiner ungewohnten, ungekonnten Kaltschnäuzigkeit überdrüssig, doch was stand ich dann in dieser versnobten, verplüschten Hotelsuite, in verzerrter Haltung wegen der schneidenden Schmerzen, ich brauchte Morphium, ich kam mir vor wie eine Hülle ohne Kern, ein aberwitziger Plan hatte mich hierher getrieben, eine Idee, die aus meiner Verbundenheit zu Frédéric entstanden war, uns in Wirklichkeit aber trennte, weil sie für immer Geheimnis bleiben mußte, denn sie verletzte, ohne daß er es wußte, seine Würde, was hatte ich angerichtet, ein schlechtes Gewissen begann mich zu würgen, immer weniger vermochte ich mich gegen die anbrandenden Bilder zu wehren, ich sah Antonio nicht mehr und auch den Raum nicht, nur

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