Der Klavierstimmer
den Griff des Stocks spürte ich noch deutlich, dankbar für die kühle Festigkeit, und dann humpelte ich hinaus, meine Schritte waren größer, als ich mir leisten konnte, es muß grotesk ausgesehen haben, aber ich wollte hinaus, hinaus aus dem Zimmer und hinaus aus dem Hotel, die Place Vendôme war leer und unwirklich, etwas vornehm Totes haftete ihr an, Antonio würde alle Fenster aufgerissen haben, um den Rauch zu verscheuchen und auch mich, den kuriosen, verwirrten Geist aus der Vergangenheit, aber ich blickte nicht zurück und wurde erst ruhiger, als mich die vielen Passanten auf dem belebten Boulevard zu kleineren Schritten zwangen.»
Maman hatte mit immer kürzer werdendem Atem gesprochen, und es hatte sich Schweiß auf dem Gesicht gebildet, als sei sie soeben wirklich gelaufen. Sie griff zur Tasse und trank in hastigen Schlucken. Dunkle Fetzen des Films auf dem Tee blieben an der Oberlippe hängen, sie erinnerten mich an Algen und ließen das Gesicht verloren, ja verwahrlost aussehen. Ich wollte Maman in die Arme nehmen, ihr das Gesicht waschen und sie festhalten, bis der Atem sich beruhigte. Noch nie, noch kein einziges Mal in meinem ganzen Leben hatte ich so für sie empfunden. Es war eine große Befreiung, und während sie mich erfaßte, spürte ich, daß ich damit nicht mehr gerechnet hatte - daß ich nicht einmal gewußt hatte, daß ich vergeblich darauf wartete.
Und doch war es auch eine schreckliche Erfahrung. Denn das, was zu dieser Befreiung geführt hatte (dazu geführt hatte, daß ich überhaupt hier war und daß Maman so erzählte, wie sie es getan hatte), war zugleich dasjenige, was mich in wenigen Stunden, einem Tag vielleicht, dazu zwingen würde, für immer von ihr Abschied zu nehmen.
Da hörte ich deine Schritte im Flur. Du bliebst vor unserer Tür stehen. Ich hielt den Atem an und hoffte, du würdest nicht klopfen. Wenn Maman nur weiterspräche; das würde dich davon abhalten. Es tat weh, es zu spüren: Ich wollte ihre Geschichte allein hören. Und ich wollte nicht, daß du uns in unserer neuen Intimität, die das Erzählen geschaffen hatte, anträfest. Wie hättest du wissen können, daß die neue Nähe nichts mehr mit dem alten Boudoir und mit penser pensées zu tun hatte!
Du hast nicht geklopft, obgleich es bei uns drinnen still blieb. Immer noch verstandest du es, mich zu erraten, selbst durch geschlossene Türen hindurch. Das ging mir durch den Sinn, als sich deine Schritte entfernten, und ich war so glücklich über den Gedanken, daß ich dir am liebsten nachgelaufen wäre, um dich hereinzuholen. Quelle folie!
Seit dem Beginn von Mamans Erzählung sah ich das erste Mal auf die Uhr: halb fünf. Zwei, drei Stunden würde die Dunkelheit noch anhalten. Auf keinen Fall durfte es zu früh hell werden. Maman war noch lange nicht fertig, das war klar, und das Erzählen konnte versiegen, wenn die schützende Dunkelheit draußen dem zudringlichen Licht eines neuen Tages wich. Und das war nicht der einzige Grund, warum ich die Zeit anhalten und die Bewegung der Erde aussetzen wollte. Der neue Tag, er konnte Mamans letzter Tag sein. An seinem Ende würde sie nicht nur mir, nicht nur uns gegenüber ein Geständnis abgelegt haben, sondern auch der Welt gegenüber, die Vater gefangenhielt. Damit er - wie sie später sagen würde - wie immer an seinem Schreibtisch vor einem Bogen Notenpapier sitzen konnte.
Für einige Augenblicke verschwand Maman aus meinem Gesichtsfeld, und ich sah statt dessen die Schatten hinter den vergitterten Fenstern von Moabit, die mit dem Erlöschen des Lichts vernichtet wurden. Auch ich wünschte mir nichts sehnlicher, als Vater drüben im Arbeitszimmer zu sehen, die alte Feder mit dem kratzenden Geräusch in der Hand. Aber ich wollte nicht, daß Maman dafür mit dem Leben bezahlte. Besonders jetzt nicht, da ich seit wenigen Minuten zum erstenmal im Leben zu wissen schien, wie es wäre, die ebenso gewollte wie erlittene Berührungslosigkeit zwischen uns, die über Kontinente hinweg gegolten und sogar Geschriebenes eingeschlossen hatte, zu beenden, ohne in den Strudel früherer Empfindungen zu geraten; wie es sein könnte, Maman zu lieben, nicht nur irgendwie, sondern mit einer Liebe, die dem Verstehen entsprang. Flucht, dachte ich. Doch daran, daß sie alleine floh, war nicht zu denken. Ich würde mit ihr gehen. Als Schutz gegen den Regen hielt ich meinen Mantel über uns ausgebreitet, ich weiß nicht, woher dieses Bild plötzlich kam, es war wie ein Bild am Ende
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